Vorsichtshalber hatte der Mann von der Bertelsmann Stiftung seinen Fahrradschutzhelm mitgebracht. Damit wagte sich Stefan Etgeton Ende Juni auf dem alljährlichen Hauptstadtkongress Gesundheit in die Höhle des Löwen. Der Gesundheitsexperte hatte eine Botschaft mitgebracht, die zumindest in Hinblick auf seinen Arbeitgeber, die vielen Kritikern als marktradikal geltende Stiftung, nicht unbedingt zu erwarten war: Die Zweiteilung des deutschen Krankenversicherungssystems in gesetzliche und private Krankenversicherung, heißt es in einer neueren Studie, ist nicht nur unzeitgemäß und ungerecht, sondern sie wird auf längere Sicht auch die öffentlichen Kassen in die Bredouille bringen. Denn in Bundesländern, in denen der Anteil der Pensionäre steigt und für die der Staat über die Beihilfe 70 Prozent zufüttern muss, werden die Ausgaben von 11,9 Milliarden Euro im Jahr 2014 auf 20,2 Milliarden im Jahr 2030 steigen.
Deshalb plädiert die Stiftung schon seit längerem für die schrittweise Überführung der Beamten, aber auch der Selbstständigen in die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und für die Angleichung der beiden Versicherungssysteme. Weil der Begriff „Bürgerversicherung“ parteipolitisch besetzt und auch ein bisschen kontaminiert ist, hat die Stiftung dem Kind einen anderen Namen gegeben und es als „Integrierte Krankenversicherung“ ins Rennen geschickt. Da aber die Einbeziehung anderer Einkunftsarten wie Mieterträge bei der Beitragserhebung für die meisten Befürworter der Bürgerversicherung schon seit längerem kein Thema mehr ist, stehen sich die Modelle ziemlich nahe.
In Bezug auf die Beamten haben die Experten mehrere Varianten durchgerechnet und auf ihre Auswirkungen hin untersucht. 85 Prozent aller Beamten sind heute mehr oder weniger unfreiwillig in der privaten Krankenversicherung (PKV) versichert. Würden sie nämlich zu den Plebejern in der GKV wechseln, müssten sie den vollen Beitrag bezahlen. Andererseits schlagen sie, wenn sie krank werden, stärker zu Buche, denn ärztliche Leistungen sind nach der Gebührenordnung für Ärzte für sie durchschnittlich 2,6-fach teurer als für gesetzlich Versicherte. Würde man die gesetzliche Krankenversicherungspflicht also auf die Beamten ausdehnen, bis zur derzeit geltenden Versicherungspflichtgrenze von 57.600 Euro Jahreseinkommen, wären 67 Prozent von ihnen pflichtversichert, weitere 20 Prozent würden voraussichtlich wechseln, weil sie über die Familienmitversicherung oder wegen Vorerkrankungen geringere Beiträge zu entrichten hätten als bei den Privaten.
30.000 Euro günstiger
Taktisch geschickt setzt die Studie aber nicht bei diesen individuellen Profiteuren, also den Versicherten, an. Sondern beim Bund und bei den Ländern, für die die Entlastungseffekte – insbesondere in den westlichen Flächenländern – enorm wären. Rheinland-Pfalz beispielsweise würde kumuliert bis 2030 unglaubliche 31.511 Euro pro Pensionär sparen, Nordrhein-Westfalen 22.011 Euro, der Bund 25.901 Euro pro Beamten, den er in die Pension schickt – und das sind viele. Nur der Osten, wo es derzeit noch wenig verbeamtete Ruheständler gibt, würde etwas mehr Geld für den Arbeitgeberanteil seiner aktiven Beamten in die Hand nehmen müssen.
Eine auf längere Sicht angelegte Integrierte Krankenversicherung, in die auch die meisten Selbstständigen einbezogen würden, funktioniert natürlich nur, wenn die Gebührenspreizung für ärztliche Leistungen eingeebnet und die Vergütungssysteme angeglichen werden. Gleichzeitig müsste eine belastbare Lösung für die derzeit in der PKV angesparten Altersrückstellungen gefunden werden, was schon heute ein Problem ist. Wer privat versichert ist, kann nämlich nicht so einfach die Fronten wechseln.
Stefan Etgeton von der Bertelsmann Stiftung schlägt vor, die Altersrückstellungen schrittweise in den Gesundheitsfonds der GKV einzuspeisen, was den Gegnern einer solchen „Einheitsversicherung“ heftige Zornesröte ins Gesicht treibt: Die GKV wolle lediglich „an zwei Euter einer Melkkuh rankommen“, was einer „grundgesetzgefährdenden Enteignung“ gleichkomme, polemisierte beim Hauptstadtkongress etwa Volker Hansen, Arbeitgebervertreter in der Selbstverwaltung der GKV. Der Unionspolitiker Rudolf Henke holte sogar weit aus zu einer verfassungsrechtlichen Belehrung: Er sieht die „allgemeine Handlungsfreiheit“ bedroht und die „Berufsfreiheit“ – für Versicherungsvertreter – eingeschränkt, würde die PKV plattgemacht.
Das Argument, die PKV fungiere als innovationstreibendes Korrektiv, kommt routinemäßig von Volker Leienbach vom Verband der Privaten: „Wenn es die PKV nicht mehr gibt“, so seine steile, aber nicht unbedingt evidente These, „wird der Leistungskatalog der gesetzlichen Versicherung schrumpfen, weil es keine Flucht mehr zu den Privaten gibt.“
Das alles ist nicht besonders neu, aber der ungewöhnlich wütende Reflex auf Etgeton lässt vermuten, dass sich die Verfechter der Zweiklassenmedizin allmählich auf verlorenem Posten fühlen, nicht zuletzt, weil Bund und Länder die Kalkulationen der Experten so apart finden könnten, dass sie schon aus haushaltstechnischen Gründen damit liebäugeln. Die Ärzteschaft wird wohl nur gewonnen werden, wenn das dann einheitliche Honorarsystem zumindest einen Teil ihrer Verluste kompensiert. Vielleicht wäre damit auch das Ende der im Laufe der vielen Gesundheitsreformen eingeführten und ungeliebten Budgetierung eingeläutet und es würden wieder Einzelleistungen abgerechnet.
Ob die in der GKV versicherten Beamten nun vorerst weiter Beihilfe erhalten oder einfach den Arbeitgeberanteil, ist dabei nicht so erheblich. Die meisten werden, so die Studie, vom Wechsel in die GKV profitieren, weil ihre Aufnahme ins andere System mit einer allgemeinen Beitragssenkung von 0,34 Prozent verbunden werden kann. Ob diese Rechnung am Ende allerdings aufgeht? Die GKV ist ein umlagefinanziertes System. Viele Faktoren wie die ungünstige Entwicklung zwischen aktiver Erwerbsbevölkerung und Rentenbeziehern, die Unwägbarkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung, die Kosten neuer medizinischer Leistungen und vieles andere können, was Ökonomen selbstgewiss veranschlagen, schnell zur Makulatur machen.
Bemerkenswert ist immerhin, dass sich fast ausschließlich Männer mit Gesundheitsökonomie befassen, auf Bundesebene in allen Parteien aber Frauen für Gesundheit zuständig sind. Das hat zumindest im Westen eine lange parlamentarische Geschichte: Elisabeth Schwarzhaupt (CDU) war nicht nur die erste Bundesministerin, sondern stand zwischen 1961 und 1966 auch dem Gesundheitsressort vor. Damals ging es noch nicht so viel um Kassen und Kassemachen, sondern mehr um die Klasse der Gesundheit einer von Krieg und Nachkriegszeit gezeichneten Bevölkerung.
Neben vielem Selbstlob aus der Großen Koalition für die „Riesenreformwerke“ der bald abgelaufenen Legislaturperiode, die zu „großen Leistungsausweitungen“ geführt hätten, ist man sich unter den heutigen gesundheitspolitischen Sprecherinnen der Bundestags-Fraktionen aber bewusst, dass nur noch die kommende Koalition auf eine Ruhephase hoffen darf. Sie sei, sagt Hilde Mattheis (SPD), die letzte Möglichkeit, das Gesundheitssystem stark zu machen für absehbar turbulentere Zeiten.
Zur Bürgerversicherung bekennen sich in unterschiedlicher Ausprägung mit Ausnahme der Union alle der derzeit im Bundestag vertretenen Fraktionen. Die SPD springt auf den Bertelsmann-Zug und will PKV-Versicherten, insbesondere Beamten, die Tür öffnen zur gesetzlichen Versicherung. „Schritt für Schritt“, sagt Mattheis, müsse man das System auf neue Beine stellen, das Honorarsystem angleichen, die Beitragsbemessungsgrenze anheben. Bei den Grünen ist man irgendwie auch noch für die Bürgerversicherung, aber ohne staatlichen Zwang. Wahlmöglichkeiten und Systemkonkurrenz sind Stichworte, die ihre Sprecherin Maria Klein-Schmeink in die Debatte wirft. Darüber hinaus, aber auch das wollen fast alle, plädiert die Grüne für einen bezahlbaren Versicherungsschutz für prekäre Selbstständige.
Kathrin Vogler von der Linkspartei setzt sich von ihren Kolleginnen dagegen deutlich ab. Sie ist für einen Stichtag, von dem an alle in die GKV aufgenommen werden und ihren Beitrag auf alle Einkünfte leisten müssen, also auch Miet- und Kapitalerträge, und zwar ohne Grenze nach oben. Damit trägt die Linke ein ursprünglich einmal von den Grünen entwickeltes Modell weiter. Vogler macht aber auch darauf aufmerksam, dass die Gesundheitsausgaben, anders, als zu hören ist, in Deutschland eher moderat wachsen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt. Dennoch habe anderslautende Propaganda dazu geführt, dass die Beitragsparität zwischen Arbeitnehmern und -gebern im letzten Jahrzehnt endgültig begraben worden sei.
Die Kopfprämie ist tot
Pfiffige Arbeitgebervertreter wie Volker Hansen oder ihnen nahestehende Politikerinnen wie die gesundheitspolitische Sprecherin der Union, Maria Michalk, bringen deshalb seit einiger Zeit immer mal wieder die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall in Anschlag, um die Kostenlast der Unternehmen zu beweisen. Sechs Prozent Beitragspunkte, rechnete Hansen freihändig vor, mache das aus. Die Lohnfortzahlung aber, hält die Linke Vogler dem entgegen, sei ein gewerkschaftlich erkämpftes Recht und nicht mit Krankenkassenbeiträgen zu verrechnen. Nur die Älteren erinnern sich noch an die Zustände in den 1960er Jahren: Arbeiter, die damals krank wurden, erhielten für drei sogenannte Karenztage keinen Lohn und danach gemindertes Krankengeld. Die Anpassung an das Angestelltenrecht war von heute aus gesehen eine sozialpolitische Revolution.
An der Wiederherstellung der Beitragsparität schraubt nun immerhin auch die SPD, um sich ein bisschen von der Großen Koalition abzusetzen. „Die Zeit, in der wir die Lohnnebenkosten senken mussten, ist vorbei“, sagt Mattheis und setzt selbstkritisch hinzu: „Die Aufhebung der Parität hatte überhaupt keine Auswirkung auf die Zahl der Arbeitsplätze.“ Es sei eine „Frage der Gerechtigkeit“, sie in Zeiten des Wirtschaftswachstums zurückzuholen. Bescheidene Ziele und selbstvergessen, wenn man bedenkt, dass die SPD unter Bundeskanzler Gerhard Schröder einmal treibende Kraft dabei war, das Gebiss zum Ausweis des sozialen Status zu machen.
Einen bemerkenswerten Satz immerhin gab Jens Spahn (CDU), längst von der gesundheits- in die fiskalpolitische Verantwortung als Finanzstaatssekretär gewechselt, zu Protokoll: „Die Kopfprämie ist tot“, gab er kürzlich erheiterten Zuhörern bekannt. Erinnern Sie sich? Die Kopfprämie war einmal ein ideologisch grundierter gesundheitspolitischer Grabenkampf. Die Bürgerversicherung hat zumindest parteipolitisch überlebt, wenn auch reichlich abgespeckt, finanzpolitisch motiviert und manchmal unter anderen Namen. Sie wird von der Mehrheit gewollt, und nur an dieser ist es, dafür zu sorgen, dass sie auch zu einer qualitativ guten Versicherung wird.
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