Die Wahrheit über die Grippewelle 2017/18

Coronakrise Vor zwei Jahren gab es eine schwere Grippewelle. War sie schlimmer als die jetzige Epidemie?
Ausgabe 16/2020

Influenzawelle überrollt Deutschland! Krankenhäuser in Not! Tödliche Grippewelle! So und ähnlich überboten sich die Schlagzeilen im Februar 2018. In der 40. Kalenderwoche 2017 erstmals nachgewiesen, im Dezember merklich steigend, rollte die Grippewelle zum Jahresende auf Deutschland zu. Sie endete im Mai 2018 und dauerte damit zwei Wochen länger als üblich. In diesen 20 Wochen wurden rund 334.000 Influenza-Fälle labordiagnostisch bestätigt, die größte Gruppe war zwischen 35 und 59 Jahre alt. Fünf Millionen Mal musste grippebedingt ein Arzt aufgesucht, 60.000 meist ältere Patienten im Krankenhaus behandelt werden, 1.674 verstarben.

So weit die dürren Daten, die die Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI) des Robert-Koch-Instituts (RKI) in ihrem umfangreichen Saisonbericht im September 2018 vorlegte. Es handelte sich, so viel war auch schon vorher klar, um die schwerste Grippeepidemie seit 30 Jahren in Deutschland. Schon Ende März hatte Silke Buda von der AGI und Mitherausgeberin des Berichts erklärt, dass das Krankheitsgeschehen ungewöhnlich stark und von vielen schweren Verläufen geprägt sei. Von den 25.100 der Grippe zum Opfer gefallenen Patienten allerdings, die heute kursieren und Anlass zu allen möglichen Relativierungen in Bezug auf die Corona-Pandemie geben, war in der damaligen Untersuchung (noch) nicht die Rede. Dieses Rätsel wird noch aufzulösen sein. Doch unabhängig vom Umfang der Opferzahlen ist es erstaunlich, dass diese außergewöhnlich schwere, gerade einmal zwei Jahre zurückliegende Grippeepidemie völlig aus dem Gedächtnis der Deutschen gelöscht scheint. War da tatsächlich etwas? Leiden wir alle an kollektiver Amnesie? Oder sind die alljährlichen Grippeereignisse so normal geworden, dass selbst Ausschläge wie 2017/18 erst wieder ins Bewusstsein rücken, wenn sie, wie momentan, skandalisiert werden? Wie ist man mit der Influenza vor zwei Jahren umgegangen und wie wurde sie öffentlich wahrgenommen?

Versuch und Irrtum

Gräbt man ein bisschen in den Archiven, ist festzustellen, dass die Influenza zunächst unterschätzt wurde. Das dürfte damit zusammenhängen, dass es auch der Grippewinter 2016/17 in sich hatte. Damals grassierte die Influenza schon sehr früh, zunächst in Frankreich. In der ersten Januarwoche schwappte sie dann nach Deutschland über, schon im Februar gelangten in Baden-Württemberg die Krankenhäuser an ihre Grenzen. In gewisser Hinsicht waren die Deutschen also, als sich 2017/18 die nächste Epidemie angekündigte, also noch im „Grippemodus“. Niemand rechnete damit, dass der Ausbruch noch einmal heftiger werden könnte als im Jahr davor.

Allerdings hatte das vorangegangene Influenza-Ereignis verhängnisvolle Folgen. Denn nicht nur in Deutschland, sondern weltweit waren 2016/17 vor allem Influenza-A-Viren unterwegs, in Deutschland wurden 93 Prozent der Krankheiten vom Erreger H3N2 verursacht, nur in sechs Prozent der Fälle wurden B-Viren nachgewiesen. Dies aber lieferte die Vorlage für die jährlich von der WHO empfohlene Impfstoffzusammensetzung für die kommende Saison: zwei Komponenten aus dem Influenza-A-Stamm und eine aus dem B-Stamm, in diesem Fall aus der Viktoria-Linie. Nur dem quadrivalenten, dem Vierfach-Impfstoff wurde auch der B-Virus aus der Yamagata-Linie zugesetzt, eben dem Stamm, der im darauffolgenden Winter sein Unwesen treiben sollte.

Dass der Dreifach-Impfstoff der Saison 2017/18 fast ebenso schlecht anschlagen würde wie ein Jahr zuvor, zeichnete sich relativ früh ab. Schon am 16.1. 2018 berichtete der Spiegel, der das weitere Epidemiegeschehen besonders intensiv verfolgte, dass der in Deutschland im Herbst und Winter verabreichte Dreifachimpfstoff wenig Schutz biete. „Mehr als die Hälfte der bisher nachgewiesenen Influenzafälle“, zitierte er die Sprecherin des RKI, würden „durch Influenza-B-Viren der Yamagata-Linie verursacht“, der in der von der Krankenkasse bezahlten Impfung nicht enthalten sei. Dass die wirksamere Vierfachvakzine aus Kostengründen von der gesetzlichen Krankenversicherung nicht übernommen wurde, wurde in vielen Berichten scharf kritisiert.

Die Suche nach dem geeigneten Grippeimpfstoff für die kommende Saison folgt allerdings jedes Jahr ohnehin dem Prinzip von Versuch und Irrtum, weil man nicht weiß, welche Viren-Familie im jeweiligen Jahr aktiv wird. Sie beginnt im Frühjahr mit der Auswahl der Viren, die dann langsam in Hühnereiern herangezüchtet werden und sich vermehren müssen. Der Medizinjournalist Werner Bartens hat dieses aufwendige und mit viel Unsicherheit verbundene Verfahren in einem Beitrag im Dezember 2017 in der Süddeutschen Zeitung einmal erklärt, um der Öffentlichkeit vorzuführen, dass die Wirksamkeit von Impfstoffen niemals umfassend sein kann. Im Unterschied offenbar zum heutigen Sars-CoV-2-Erreger sind Grippeviren nämlich extrem verkleidungsfreudig, bis ein Impfstoff hergestellt ist, haben sie ihre Außenhülle oft genug schon wieder so weit angepasst, dass sie unbehelligt an den Körperzellen andocken können. Im Fall von Corona versucht man, durch gentechnologische Verfahren die Herstellung von Impfstoffen zu beschleunigen.

Anfang Februar 2018 wurde dann deutlich, dass sich die Grippe in Deutschland schnell ausbreiten würde. 9.000 neue Fälle wurden in der letzten Januarwoche gezählt, insgesamt bis dahin 20.500. In Saarbrücken starb am 25. Januar ein vierjähriges Mädchen, schon im Dezember war ein Kleinkind im Saarland gestorben. Klar war nun auch, dass diesmal das berüchtigte Virus H1N1 angriff, jene Variante also, die seit der Schweinegrippe-Pandemie 2009 weltweit agierte. Die Medien berichteten nun regelmäßig über die Ausweitung der Epidemie, in der ersten Februarwoche wurden alleine für München 1.000 Fälle gemeldet, davon 200 Neuinfektionen, so viele wie noch nie in einer Grippesaison. Immer wieder riefen die Verantwortlichen Risikogruppen – Schwangere, chronisch kranke und ältere Menschen – dazu auf, sich noch impfen zu lassen, obwohl der verfügbare Impfschutz lausig war. Für alle anderen Altersgruppen übernahm die Kasse die Kosten ohnehin nicht.

Wichtige Rolle der Kinder

Wie heute bei Corona spielten auch in diesem Fall die Kinder bei der Übertragung des Grippevirus eine wichtige Rolle. Insbesondere in Kindergärten und Schulen breitete sich die Krankheit rasend aus. Das RKI brachte nun wöchentliche „Wasserstandsmeldungen“ unters Volk. In der 8. Kalenderwoche waren insgesamt 120.000 Bundesbürger an der Grippe erkrankt. „Mehr als 35.000 Grippefälle in eine Woche!“, alarmierte die Bild-Zeitung. „Deutschland an der Spitze!“ Für Eugen Brysch von der Stiftung Patientenschutz war das Anlass, wieder einmal die Krankenkassen anzuprangern, die immer noch nicht für den Vierfachimpfstoff aufkommen wollten. Doch die Mühlen des Gemeinsamen Bundesausschusses, der den Kassenkatalog bestückt, mahlten gemächlich, die Entscheidung wurde für den April angekündigt. Viel zu spät für die laufende Saison.

Anfang März begann die Epidemie auch das öffentliche Leben zu beeinflussen. Nicht nur Arztpraxen waren überfüllt, auch die Krankenhäuser erreichten ihr Limit. Alleine am Universitätsklinikum Dresden wurden täglich 20 Grippepatienten mit schweren Verläufen eingeliefert. Die Bild-Zeitung meldete am 12. März den „Grippe-Gau in Leipziger Kliniken“. Teilweise gelangten die Arztpraxen, wie der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einräumen musste, an ihre Kapazitätsgrenzen. Der Spiegel veröffentlichte mehrere epidemische Lageberichte. Mitte März wirkte sich die Grippe auf den Nahverkehr aus, in Brandenburg kam es zu Busausfällen, alleine in Düsseldorf meldeten sich 200 Busfahrer krank, Behörden wurden geschlossen, in Cottbus das Gericht lahmgelegt. In manchen Regionen mussten Operationen bis auf Notfälle abgesagt und Operationssäle geschlossen werden.

Bis Ende März verzeichneten die Krankenkassenstatistiken schließlich den höchsten Krankenstand seit zehn Jahren, mehr als vier Millionen Arbeitnehmer mussten ihre Tätigkeit ruhen lassen. Besonders betroffen waren Rheinland-Pfalz, das Saarland und die ostdeutschen Bundesländer. Bis dahin zählte man offiziell 271.000 laborbestätigte Infektionen und 971 Grippetote. „Es ist gut möglich“, sagte Silke Buda im Interview mit der Süddeutschen Zeitung, „dass wir am Ende dieser Saison mehr Fälle haben werden als in den vergangenen Jahren.“

Maßnahmen? Fehlanzeige

Als das RKI im Mai schließlich noch einmal vorläufige Zahlen zur Epidemie vorlegte, hatten die Gesundheitsminister der Länder die Grippesaison bereits für beendet erklärt. Keiner der Verantwortlichen hatte es angesichts des Krankheitsverlaufs in Erwägung gezogen, Kindergärten oder Schulen zu schließen, Behörden in den Tiefschlaf zu versetzen oder Arbeitnehmer in den Urlaub zu schicken. Zwar war das Krankheitsgeschehen als durchaus „außergewöhnlich“ wahrgenommen worden, doch Anlass für „durchgreifende“ Maßnahmen gab es nicht. Lediglich der Gemeinsame Bundesausschuss rang sich durch, den Vierfachimpfstoff für die kommende Saison in den Leistungskatalog aufzunehmen. Im Herbst/Winter 2018/19 entschieden sich dann mehr Bundesbürger für eine Grippeimpfung, sodass es im Januar sogar zu einem Engpass kam und Impfstoff importiert werden musste. Nur: Von den 25.100 Grippetoten war noch immer nicht die Rede.

Diese tauchten erst ein Jahr später auf. In einem Bericht der Deutschen Apotheker-Zeitung im Oktober 2019 über die Grippesaison 2018/19 wird die Zahl mit Verweis auf einen Grippeüberwachungsbericht des RKI genannt und gefragt: „Doch wie kommt das RKI auf diese Todeszahlen?“ Bemüht man die zitierte Untersuchung, stößt man darauf, dass die von der AG Influenza registrierten Todesfälle für eine tatsächliche Einschätzung für Hochrechnungen nicht geeignet seien, weil im Gegensatz zu anderen Erkrankungen Influenza häufig nicht auf dem Todesschein vermerkt werde, selbst wenn sie wesentlich zum Tod beigetragen habe. Das Ableben eines Patienten werde vielmehr etwa einem Diabetes mellitus oder einer Pneumonie zugeschrieben. International wird die der Influenza zugeordnete Sterblichkeit deshalb seit Jahrzehnten mittels statistischer Verfahren ermittelt. Sie ergibt sich, vereinfacht gesagt, aus dem über mehrere Jahre erhobenen Verhältnis von normaler Sterblichkeit und tatsächlichen Todesfällen. Diese „Übersterblichkeit“ betrug im besagten Grippewinter 25.100.

Dass die Meldung des RKI fast zwei Jahre nach dem Ereignis keine besondere Aufmerksamkeit mehr auslöste, ist leicht nachvollziehbar. Erst in Zusammenhang mit Corona und der alarmistischen Registratur täglicher Todesfälle veränderte sich die Bedeutung dieses längst vergessenen Befunds schlagartig.

Es könnte aber auch sein, dass Grippeepidemien grundsätzlich anders wahrgenommen werden als Krankheiten, die auf neuartige Viren zurückgehen. Dafür spricht der Stoizismus, mit dem die deutsche Bevölkerung schon 1957/58 die Asiatische Grippe – mit weltweit zwei Millionen Toten, in Deutschland innerhalb von zwei Jahren 50.000 – hat über sich ergehen lassen. Im Unterschied zu Bill Gates, der im Februar 2017 vor „Millionen von zusätzlichen Toten“ durch Pandemien wie die Spanische Grippe warnte, reagieren die Menschen auf Grippewellen offenbar mit einer gewissen Gelassenheit, die auch auf die politisch Verantwortlichen auszustrahlen scheint.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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