Zu beneiden war die Jury, die in diesem Jahr den Deutschen Buchpreis verantwortet, sicher nicht: Denn ein paar Tage nach der Nobelpreis-Entscheidung für Herta Müller hätte es merkwürdig ausgesehen, ihr nun auch noch diesen international wenig renommierten Preis hinterher zu werfen; sie nicht auszuzeichnen nach dieser höchsten Nobilitierung aus Oslo wirkt aber auch wie ein Affront.
Die Entscheidung für Kathrin Schmidt mag überraschend sein, ein Fehlgriff ist sie keineswegs, im Gegenteil. Denn was die Berliner Autorin nach sieben Jahren Schreibpause und unter persönlicher Anstrengung vorgelegt hat, kann es mit ihrer Konkurrentin durchaus aufnehmen – und es gibt sogar gewisse Parallelen, denn wie das gesamte Werk Herta Müllers ist auch Schmidts Roman Du stirbst nicht biographisch grundiert. Die Geschichte der Helene Wesendahl, die auf einer Berliner Intensivstation aufwacht und nicht nur Sprache, sondern auch alle Erinnerung an ihr früheres Leben verloren hat, ist von der Autorin selbst durchlitten und durchlebt worden.
Bemerkenswert ist aber nicht nur die Authentizität des Erlebten, der Kampf um Autonomie und die psychologische Einfühlung, sondern die Art, wie Schmidt aus dem Sprachverlust Feuer schlägt, indem sie den Worten neue Bedeutungen abringt und ihre opulente Bildphantasie auslebt.
Preis als Chance
Das Votum für Kathrin Schmidt ist aber auch ein politisches Signal, denn nach Uwe Tellkamp im vergangenen Jahr wird hier nicht nur eine Autorin aus Ostdeutschland ausgezeichnet, sondern auch eine, die während der Wende als Aktivistin der Vereinigten Linken am Runden Tisch saß und dann, als sie den „Männerverein“ über hatte, in der Ostberliner Frauen- und Medienszene zuhause war. Bis heute versteht sich die studierte Psychologin nicht nur als Schriftstellerin, sondern auch als politischer Mensch, der sich publizistisch – nicht zuletzt im Freitag – einmischt.
Ob die Auszeichnung für Kathrin Schmidt auch ein inhaltliches Zeichen setzt in der Weise, als literarische „Welthaltigkeit“ mangels Krieg und Katastrophen in unseren Breiten vorweg in der Krankheit zu finden ist, sei dahingestellt. Nicht nur ruft ja jede Epoche metaphorisch „ihre“ Krankheit auf; es ist die Zeit selbst, die „krankt“ und sich im individuellen Wechselfall des Lebens Gehör und in besonderen Fällen literarisch Ausdruck verschafft. Jedenfalls fällt auf, dass in der Nachwendezeit vorwiegend verunglückte Paarläufe Eingang in die Literatur fanden, während in den letzten Jahren die Krankheit (wieder) als Sujet entdeckt wird. Als „Chance“, wie das deutsche Feuilleton unterstellte, hat Kathrin Schmidt diese allerdings nicht empfunden.
Der sichtlich überraschten Autorin sichert der Preis, wie sie gestern ganz offen erklärte, eine Weile wirtschaftliche Unabhängigkeit. Nicht Krankheit also, sondern Preis als Chance. Gespannt darf man darauf warten, wie sich diese Art des öffentlichen Mäzenatentums entwickeln wird, wenn das Urheberrecht einmal fallen sollte.
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