Die Wesen mit den weißen FFP-Schnauzen, die derzeit durch unsere Städte hasten, erinnern ein bisschen an unsere entwicklungsgeschichtlichen Vorfahren. Wo aber angeborener Fluchtreflex angesichts der Gefahr an geschlossenen Grenzen scheitert, bleibt nur das Totstellen. Bis vor Kurzem schien es so, dass mit der Maske auch der Maulkorb umschrieben sei, den sich die Bundesbürger im Zeichen von Corona freiwillig umgehängt hätten. Noch hält der Vernunftkonsens, doch er beginnt, allen Umfragen zum Trotz, zu bröckeln, in der Bevölkerung ebenso wie unter den Meinungsmachenden der Republik. Der Appell acht prominenter Persönlichkeiten im Spiegel Ende April – darunter der auf dem Aufmerksamkeitsmarkt aufgestiegene Virologe Alexander Kekulé, der ehemalige Kulturstaatsminister und künftige Ethikrat Julian Nida-Rümelin und die Schriftstellerin Juli Zeh –, den Lockdown baldmöglichst zu beenden, gehört zu den seriöseren Initiativen. Der Regisseur Frank Castorf drückt es hemdsärmeliger aus: Er habe keine Lust, sich von Frau Merkel sagen zu lassen, wann er seine Hände wäscht. Das böse Wort von der Gesundheitsdiktatur dräut links und rechts. Und der Ton wird merklich harscher.
Insofern war der 1. Mai eine Art Lackmustest für das Katastrophenempfinden im Land, das angesichts fallender Infektionsraten, nicht belegter Intensivbetten und ausbleibender Gegenwärtigkeit der Krankheit – in manchen Landstrichen war sie bislang real gar nicht erfahrbar – nicht dauerhaft auf Alarmstufe Rot zu halten ist. Die in einigen Städten über das Internet organisierten Demonstrationen gegen die Corona-Regeln mögen zwar von risikoignoranten Egoisten nach dem Motto „Freie Fahrt für freie Bürger“ oder berechnenden Verschwörungsaktivisten dominiert worden sein. Doch nicht zu übersehen ist auch, dass die Unzufriedenheitskurve in dem Maße steigt, in dem die Infektionskurve sinkt. Das „Es reicht!“ kommt auch in der Politik an. Dort war schon von Anfang an klar, dass der Lockdown der eisernen Hand viel einfacher zu handeln sein würde als der vielstimmig moderierte Weg in die sogenannte neue Normalität.
Öffnen, öffnen, öffnen
Konnte sich Ministerpräsident Markus Söder als Vortrommler einschränkender Maßnahmen noch auf weitgehende Zustimmung verlassen, erleben wir seit anderthalb Wochen ein landesherrliches Pfeifen im Walde, eingepfercht zwischen der Angst vor der „zweiten Welle“ und dem fühlbareren Unmut. Sachsen schenkte seinen Landsleuten als Erstes den trostspendenden Kirchgang, Armin Laschet trieb ohne ausreichende Vorbereitung seine Schülerschaft in die vielfach maroden Ausbildungsstätten, sodass dort sogar zum Schulboykott aufgerufen wird. In Rheinland-Pfalz und ein paar anderen Ländern darf man nun auch in den großen Malls shoppen, und Sachsen-Anhalt lockert ab dieser Woche im Alleingang das strikte Kontaktverbot und erlaubt fünf Menschen das gemeinsame Flanieren. Aus der Resterampe bietet Niedersachsen nun noch den Go-on der Gastronomie an. Die Pläne der Kanzlerin waren bereits überholt, als sie am Mittwoch mit den Ministerpräsidenten der Länder künftige Lockerungen beriet und den denkwürdigen Satz "das mache ich nicht mit!" gesagt haben soll.
Nachdem Österreich und Tschechien ihre Grenzöffnungen vorbereiten und Polens Gastronomie den Betrieb aufnimmt, drängen auch innerdeutsche Urlaubsländer wie Mecklenburg-Vorpommern auf die planbare Wiedereröffnung von Gaststätten und Hotels. In Nordrhein-Westfalen wird über die baldige Revitalisierung der Kleinkindbetreuung nachgedacht, denn das Beispiel Dänemark, das als erstes EU-Land wieder in seine Schulen und Kitas einlädt, beschäftigt jede Talkrunde. Druck macht auch die Wirtschaftslobby, die – mit möglichst viel Staatsknete – die Konjunktur anheizen möchte und eine Bundesliga, die bei Drohung ihres Untergangs auf Biegen und Brechen den Spielbetrieb durchgesetzt hat. Hallo, die Interessensrepublik ist zurück! Der bis dahin kompakte und zu schützende „Volkskörper“ zerfällt in seine mehr oder weniger systemrelevanten Teile.
Neigt sich also die Waage der „Sicherheit“ in Richtung der „Freiheit“, wie es die öffentliche Debatte suggeriert? Wird der bisher starke Chor der Vorsichtigen, die vor „falschen Signalen“ (Karl Lauterbach, SPD) und „zweiten Wellen“ (Robert-Koch-Institut) warnen, von der neuen Stimme der „Lockerungsdrängler“, wie sie Laschet-Konkurrent Norbert Röttgen nennt, übertönt? Bringt ein weiterer Lockdown für das Infektionsgeschehen gar nichts mehr, wie Alexander Kekulé behauptet? Und sind die Kollateralschäden, die er mit sich bringt, einfach viel zu hoch, bemessen am Gewinn von Leben?
Als hochrangiger Repräsentant hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) einen schweren Stein ins Wasser geworfen, der kreisend viel Widerhall gefunden hat. Explizit erklärte er den Schutz des Lebens nicht für absolut, sondern verhandelbar mit anderen Grundrechten. Nur die Würde des Menschen sei unantastbar, die aber schließe das Sterben mit ein. Das war der Auftakt für einen staatlich erlaubten diskursiven Paradigmenwechsel. Er wurde unter anderem planiert von wegweisenden Entscheidungen wie jener der saarländischen Verfassungsrichter, die den Staat beweispflichtig machen für freiheitsbeschränkende Maßnahmen, die „endgültige Nachteile“ nach sich ziehen und von denen nicht belegt werden kann, ob sie tatsächlich dem Gesundheitsschutz dienen.
Eben diese Komplexität des Geschehens selbst und die nicht abschätzbaren Auswirkungen jedweder Maßnahmen haben den derzeit beobachtbaren Glaubens- und Überbietungskrieg überhaupt hervorgebracht. Aus einer zwar potenziell tödlichen, aber durchschaubaren Atemwegserkrankung ist ein Krankheitsgeschehen geworden, das täglich mysteriöser wird. Schon die Symptome sind nicht so eindeutig wie angenommen. Offenbar greift das Virus nicht nur die Lunge an, sondern fast alle anderen Organe, durch Embolien und andere Komplikationen sterben auch jüngere, gesunde Menschen. Die Beatmungstherapie steht in Verdacht, in manchen Fällen Schaden anzurichten. Neue beobachtbare Gefäßschädigungen bei Kindern geben den Wissenschaftlern Rätsel auf. Viel zu wenig bekannt ist über die Mutationseigenschaften des Virus und über die Übertragung der Krankheit durch bestimmte Alterskohorten. Wie lange Genesene immun sind, kann nicht verlässlich beantwortet werden.
Blamable Zahlenpanne
Diese medizinische Verunsicherung wird vertieft durch epidemiologische Modellrechnungen und Kennzahlen wie Infektionsgeschwindigkeit, Infektionsraten und Reproduktionszahl, die zu einem bestimmten Zeitpunkt einer Pandemie entscheidend sind für die zu ergreifenden Maßnahmen. Ein Beispiel ist der Streit über die Heinsberger Studie, die hochrechnet, dass mittlerweile 1,8 Millionen Bundesbürger mit Corona infiziert waren oder sind und damit die Covid-19-Sterberate viel niedriger ansetzt als das Robert-Koch-Institut (RKI). All dies hat zu viel Verwirrung geführt und das Vertrauen in die wissenschaftliche Expertise erschüttert. Und die Wissenschaftler stehen tatsächlich auf schwankendem Boden, weil es bei unkalkulierbaren Risiken keine Sicherheit zu kaufen gibt. Die falschen Corona-Infektionszahlen, mit denen Angela Merkel und Jens Spahn am Wochenende operiert haben, sind nur der etwas blamable Auswuchs dieser Unsicherheit. Das gilt auch für die völlig willkürliche, nun geltende Obergrenzte von 50 Infizierten pro 100.000 Einwohner, aber der die Beschränkungsmaßnahmen wieder aufgenommen werden sollen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass Bundesländer und Landkreise mit dieser Vorgabe "kreativ" umgehen werden.
Doch die Menschen wollen und brauchen Sicherheit, und Politiker müssen so tun, als fußten ihre Verordnungen auf gesicherten Erkenntnissen. Anders ist Markus Söders bei Anne Will herrisch hervorgebachte Forderung an das RKI, endlich eine verlässliche Zahl als Entscheidungsgrundlage für die Lockerungen zu liefern, nicht zu verstehen. Eigentlich müsste er wissen, dass die Behörde dazu gar nicht in der Lage ist, alleine schon aufgrund der zeitverzögernden zweiwöchigen Inkubationszeit und weil die epidemiologischen Auswirkungen den einzelnen Maßnahmen gar nicht zuzuordnen sind. So sieht es auch ein Gutachten, das die vier großen deutschen Forschungseinrichtungen kürzlich vorgelegt haben: Letztlich geht es immer nur um Schätzungen, Annahmen, Modelle. Das von der wissenschaftlichen Moderne hervorgebrachte Modell ist aber ein reines Artefakt, und in diesem Fall weiß niemand, „was hinten rauskommt“. Wissenschaft wird damit nicht insgesamt diskreditiert, sondern vielleicht nur etwas demutsfähiger.
Boris Palmers Linie
„Abwägung“ ist derzeit deshalb das Wort der Stunde, das nicht nur der „Lockerungsdrängler“ Laschet im Munde führt. Der Gesundheitsschutz wird zunehmend relativiert, ohne seine moralische und exekutive Macht außer Kraft zu setzen. Und weil es nicht opportun ist, ökonomische Folgen gegen Leben hochzurechnen, werden nun die nicht wieder gutzumachenden sozialen oder gesundheitlichen Schäden der Corona-Maßnahmen, wie etwa für benachteiligte Kinder und Alleinerziehende oder für psychisch Kranke, für die Isolierung besonders belastend ist, ins Feld geführt. Das will nicht heißen, dass es diese gravierenden Auswirkungen nicht gäbe, das Leid der Abschottung ebenso wie die immensen Bildungsnachteile für Kinder und Jugendliche. Doch als „Risikogruppe“ werden sie nun in Konkurrenz gebracht zu den Bevölkerungsteilen, die von Corona besonders betroffen sind, die vorgeschädigten und vor allem die älteren Menschen. Eine solche Hierarchisierung, sagte die Publizistin Carolin Emcke in einem Interview, sei „so entmündigend wie stigmatisierend“. Das gilt übrigens für alle genannten Risikogruppen.
Die zynische Zuspitzung dieser Dichotomisierung hat sich der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer erlaubt, als er via Frühstücksfernsehen erklärte, dass wir in Deutschland „möglicherweise Menschen retten, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“. Was er auf den daraufhin folgenden Sturm der Empörung als „Missverständnis“ aufzuklären versuchte, steht jedoch in einer Linie zu früheren Äußerungen. So warb er beispielsweise für einen „neuen Generationenvertrag“, in dessen Rahmen die Jüngeren arbeiten gehen und das Infektionsrisiko auf sich nehmen, während die Älteren auf soziale Kontakte verzichten sollen.
Palmer hat den von Schäuble vorgelegten Diskursrahmen auf das Unerträgliche strapaziert, wie die öffentlichen Reaktionen, der Unterstützungsentzug durch die Grünen und die Debatte über ein Parteiausschlussverfahren zeigen. Aber unabhängig davon, ob er für die Grünen noch tragbar ist oder nicht, hat er sehr deutlich darauf aufmerksam gemacht, dass Entscheider kalkulatorische Definitionsmacht haben, selbst wenn sie von Gerichten (noch) darauf verpflichtet werden, den Ausnahmezustand zu begründen. So wie die Zeichen stehen, wird dieser für die Mehrheit sukzessive ohnehin aufgehoben werden. Aber wie steht es um den Rest, der für die Freiheit „in Schutz“ genommen wird?
„Sicherheit“ und „Freiheit“, diese beiden angeblichen Pole, die sich in der aktuellen Diskussion diametral gegenüberstehen, sind also erheblich enger miteinander verflochten, wenn man sie auf Betroffenheiten herunterbricht. Wir werden im Zuge von Corona darauf trainiert werden, Sicherheit mit einem Stück Freiheit und Freiheit durch die freiheitsentziehende Sicherung von Minoritäten zu bezahlen; der derzeit diskutierte Immunitätsausweis ist nur ein Beleg dafür. Die epidemiologischen Warner mit ihren traditionellen Seuchenkonzepten der Abschottung sind voerst ins Hintertreffen geraten und das seuchensensible Selbst-Unternehmertum wird in den nächsten Monaten herausgefordert werden. Kommt es zu einer großen „zweiten Welle“, wird Kassandra recht behalten, doch es wird ihr nicht gefallen.
aktualisierte Fassung vom 9.5.2020
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