Wir befänden uns an einem Wendepunkt, sagte Peter Iseley vergangenen Herbst anlässlich des zweiten Kongresses der Betroffenen sexueller Gewalt. Es sei ein historischer Moment: „Rund um den Globus beginnen die Institutionen der Rechtsprechung zu ermitteln und einzugreifen in das strukturell verankerte Phänomen des sexuellen Kindesmissbrauchs in den Kirchen sowie dessen Vertuschung.“ Iseley, Gründer der ältesten Betroffenenorganisation in den USA, bekräftigte damals sein Plädoyer für „null Toleranz“: Wer Kinder missbrauche, könne nicht Priester sein; Bischöfe und Kardinäle, die dies vertuschten, müssten ihres Amtes enthoben werden; und die Täter – dies seine umstrittenste Forderung – sollten öffentlich registriert werden. Denn bisher kenne niemand außer dem Vatikan die Namen der weltweit 5.000 Geistlichen, die solche Verbrechen an Kindern verübt hätten.
Vielfach beschworen wurde dieser „historische Moment“ auch anlässlich des sogenannten Anti-Missbrauchs-Gipfels der katholischen Kirche am vergangenen Wochenende im Rom. Papst Franziskus hatte Kardinäle und Bischöfe aus aller Welt zu einer Art Bußgang zusammengerufen, in dessen Mittelpunkt eine Rechenschaftslegung stehen sollte. Die Erwartungen waren hoch. Doch ob es der von Iseley prophezeite „Wendepunkt“ werden wird, darüber gehen die Meinungen weit auseinander.
Gemessen an den Forderungen, die die Betroffenen sexueller Gewalt an die kirchlichen Institutionen richten, blieb Franziskus’ Abschlussrede vor den 190 Versammelten – darunter gerade einmal zwölf Frauen – weit zurück. Zwar räumte er die Schuld katholischer Ordensträger ein und verkündete ein Ende der Vertuschungsstrategie. Doch schon sein Vergleich zwischen Kindesmissbrauch und „Menschenopfern heidnischer Rituale“ offenbart, wie sehr er verkennt, worum es geht: Bei sexueller Gewalt handelt es sich nicht um eine in grauer Vorzeit liegende pseudoreligiöse gewalttätige Handlung, sondern um den schlichten Machtmissbrauch angeblich zivilisierter Vertreter einer Institution, die offenbar immer noch glaubt, außerhalb des säkularen Zugriffs zu stehen und ausschließlich nach ihren eigenen Gesetzen handeln zu können.
Der Satan! Das Böse!
Auch die Relativierungen des Papstes zeugen nicht von Einsicht. Sexueller Missbrauch sei nicht auf die katholische Kirche beschränkt, hob er hervor, sondern ein „übergreifendes Phänomen“, das vor allem „Eltern, Verwandte, die Partner von Kinderbräuten, Trainer und Erzieher“ betreffe. Immerhin räumte er ein, dass die Kirche ob ihres moralischen Generalanspruchs in besonderer Verantwortung stehe. Doch über konkrete Konsequenzen, also wie mit dem „Bösen“ und den vom „Satan“ Ergriffenen umgegangen werden soll, schwieg er beredt.
Denn ganz so freiwillig hatte sich Franziskus auf dieses Ausnahmeereignis nicht eingelassen. Zwar hatte er 2018 mit „Scham und Reue“ verkündet, dass die katholische Kirche nicht dort gestanden habe, wo sie „eigentlich hätte stehen sollen“, und „nicht rechtzeitig gehandelt“ habe, als das Ausmaß des Schadens deutlich wurde. „Nicht rechtzeitig“: Das ist etwas euphemistisch, wenn man bedenkt, wie lange sich die katholische Kirche mit diesem Problem schon herumschlägt – und es verdrängt. Spätestens seit 1994, als der nordirische Priester Brendan Smyth wegen sexueller Übergriffe an Kindern in irischen und US-amerikanischen Gemeinden verhaftet wurde und kurz darauf der Wiener Erzbischof Hans Hermann Groër von seinem Amt zurücktreten musste, wäre es an der Zeit gewesen. In Deutschland brachte Pater Mertes vom Berliner Canisius-Kolleg 2010 den Stein ins Rollen und nötigte die Katholische Bischofskonferenz, einen Sonderbeauftragten einzusetzen und eine Studie über sexuellen Kindesmissbrauch in den 27 Diözesen in Deutschland in Auftrag zu geben.
Doch vor allem die Kirchenvertreter in den USA haben den Druck auf den Vatikan verstärkt. Die Ergebnisse der dort veröffentlichten Untersuchungen waren so erdrückend – rund 300 Priester haben Kindern sexuell Gewalt angetan –, dass sich die Bischöfe zu Maßnahmen veranlasst sahen. Dass in Chile eine ganze Bischofskonferenz zurückgetreten ist und in Australien ein hoher kirchlicher Würdenträger vor Gericht steht, dürfte den Prozess außerdem beschleunigt haben. Grund genug gibt es. Der Unabhängige Bundesbeauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, ist jedenfalls überzeugt davon, dass wir es weiterhin „mit einer sehr großen Dunkelziffer zu tun haben“. „Die Untersuchungsergebnisse der MHG-Studie“, sagte er gegenüber dem Freitag, „sind sicher nur die Spitze des Eisbergs.“
Die 2018 vorgelegte MHG-Studie, genannt nach den Anfangsbuchstaben der Orte, an denen sich die drei beteiligten wissenschaftlichen Institute befinden, geht davon aus, dass zwischen 1947 und 2014 mindestens 3.677 Minderjährige – zwei Drittel davon männlich – von sexueller Gewalt durch 1.670 Kleriker betroffen waren. Dabei ist zu berücksichtigen – und das ist ein Skandalon –, dass die Wissenschaftler gar keinen Zugang zu den Originalakten hatten, sondern diese durch Mitarbeiter der Diözesen ausgewertet wurden. Nur in einem Drittel der Fälle wurde ein kirchenrechtliches Verfahren eingeleitet. Die Wissenschaftler kommen zum Schluss, dass unter anderem der Zölibat und der „Klerikalismus“, also die hierarchisch-autoritäre Struktur der katholischen Kirche, sexuellen Missbrauch und dessen Vertuschung und Verleugnung begünstigten.
Berührungsängste
Doch weder auf den Zölibat noch auf die exklusive Kirchenverfassung legte sich am Wochenende der päpstliche Finger. Und offenbar gab es auch Berührungsängste mit den Betroffenen, wie Matthias Katsch vom deutschen Betroffenenrat wiederholt kritisierte. Transparenz gehört eben nicht zu den kultivierten Eigenschaften der katholischen Kirche. Sie habe, so Rörig, „nach wie vor nicht überall einen angemessenen Umgang mit Menschen gefunden, die als Kinder und Jugendliche durch Geistliche oder Kirchenmitarbeiter sexuelle Gewalt erlebt haben. Betroffene dürfen nicht mehr als Bittsteller und Störer gesehen werden.“ Hier sei eine „grundlegende Umsteuerung und Entwicklung von Standards“ nötig, durchsetzbare Rechte und der Zugang zu Akten und Archiven. „Aufarbeitung ist erst möglich, wenn Betroffenen selbstverständlich auf Augenhöhe begegnet wird.“ Das beinhalte auch, dass sie ebenso wie externe Fachleute in die Aufarbeitungsprozesse einbezogen würden.
Vor dem Gipfel war Rörig noch überzeugt, dass der Krisengipfel einen Schub für verbesserte Prävention und Hilfen bringen werde. Danach verstehe er jedoch die Enttäuschung vieler Betroffener. „Es ist nachvollziehbar, dass sie sich nach all den Jahren des Wartens jetzt konkrete Beschlüsse erhofft hatten, wie künftig mit Tätern, Vertuschern und Leugnern umgegangen und wie das erlittene Unrecht angemessen entschädigt wird.“ Er wünscht sich nun einen zeitnahen Fahrplan, der festhält, welche Maßnahmen im nationalen Rahmen nun ergriffen und umgesetzt werden. Den Betroffenen ist zu wünschen, dass es ihnen nicht geht wie vielen überlebenden Zwangsarbeitern und anderen Opfern des Nationalsozialismus, die oft gar keine Entschädigungszahlungen mehr erleben durften.
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