Entgrenzt

Auf dem Prüfstand Leitbild Wissenschaft - Wissenschaftliche Leitbilder

Als Mitte der neunziger Jahre die ersten BSE-Fälle bekannt wurden und der "Rinderwahnsinn" in Form des Creutzfeld-Jakob-Erregers auf den Menschen übersprang, überschlugen sich die Hochrechnungen über die künftig zu erwartende Epidemie. Der Druck auf betroffene Familien, sich einem Gentest zu unterziehen, sei, so der Arzt Stefan Kropp, enorm gewesen, obwohl nur in zehn Prozent der Fälle von einer genetischen Disposition auszugehen sei. Bei Hämochromatose (die so genannte Eisenspeicherkrankheit) wiederum liegt die Wahrscheinlichkeit - selbst bei einer genetischen Anlage -, Krankheitsymptome zu entwickeln, relativ niedrig. Dennoch unterzogen sich 4.000 Versicherte im Modellversuch der Kaufmännischen Krankenkasse einem Gen-Check.

Unterschiedliche Gegenstände, gewiss. Doch die von Kropp und Katrin Grüber, Leiterin des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW), skizzierten Fälle haben eine Gemeinsamkeit: Sie operieren mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit, obwohl damit weder etwas über Krankheitsursache noch den Verlauf ausgesagt ist. Dahinter steht die Vorstellung, den statistischen Zufall kontrollieren und Krankheit damit "in den Griff" bekommen zu können. Dass die wissenschaftlichen Leitbilder dabei ebenso fluktuieren wie das Leitbild Wissenschaft selbst, war Thema einer Tagung, die das IMEW zusammen mit dem Max-Planck-Forschungsprogramm Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus ausrichtete.

Doch auf welche Weise setzen sich bestimmte Disziplinen als Leitwissenschaft durch? Welche Dynamiken werden bei der Ausformung einer Wissenschaftskultur wirksam? Wie kam es beispielsweise dazu, dass die noch vor hundert Jahren dominierende Infektionsmedizin mit ihren Vorstellungen von "schlafenden" Keimen, die den Körper irgendwann invasiv überschwemmen, abgelöst wurde von der genetischen Epidemiologie, die mit vorausschauenden Gentests und Stochastik operiert? Bedient Wissenschaft nur die jeweilige gesellschaftliche Nachfrage nach Erklärungsmodellen und Lösungsversprechen, oder ist sie selbst an der Konstruktion "gesellschaftssanitärer Ideen" (Susanne Heim, MPG), die im entgrenzenden Zugriff auf den Menschen im Nationalsozialismus einen kriminellen Höhepunkt fanden, beteiligt?

Es gibt Hinweise darauf, dass das destruktive Potential, das gerade der biomedizinischen Forschung innewohnt, nicht einfach nur "missbraucht" wurde bzw. zweckentfremdet werden kann, sondern diese Grenzüberschreitungen der innerwissenschaftlichen Dynamik entspringen. Immerhin stellten linke sozialreformische Mediziner im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts das eugenische Inventar bereit, und es waren, wie Uwe Kaminsky zeigte, protestantische Medizinerkreise, die noch bis Ende der sechziger Jahre die Sterilisation von genetisch belasteten Menschen befürworteten.

Am Beispiel der um 1900 tonangebenden Psychiatrie führte die Historikerin Doris Kaufmann vor, auf welche Weise sich Diskursstrategien durchsetzen. Wurde zu Beginn des Ersten Weltkriegs die "Kriegshysterie" noch als Kriegsfolge behandelt, wurden die hysterischen Symptome im Verlauf des Krieges neu interpretiert: Nun waren sie Ausdruck von "Charaktermängeln", und die Patienten wurden nach rassisch-psychopathologischen Merkmalen klassifiziert. Umgekehrt erfuhr die Schizophrenie Anfang der zwanziger Jahre eine "kreative" Aufwertung und galt nun als fast wünschenswerter Zustand, künstlerische Aktivität zu entfalten.

Ideell erhöht, bleiben Psychiatriepatienten in den Niederungen der Praxis dennoch meist nur Objekt der Forschung und Therapie. Sibylle Prins vom Bundesverband der Psychiatrieerfahrenen führte am eigenen Beispiel vor, auf welche Weise Betroffene diesen normierenden wissenschaftlichen Zugriff erleben, aber auch wie sie sich dagegen wehren können.

Dass gesundheits- und bevölkerungspolitische Kontrollstrategien viel effektiver funktionieren, wenn sie vom Einzelnen verinnerlicht und in den Alltag integriert werden, ist heutzutage kaum mehr zu übersehen. Und auch das hehre Selbstbild der Wissenschaft als autonomem Binnenort, der auf besondere ethische Postulate zu verpflichten sei, so provozierte jedenfalls Regine Kollek vom Nationalen Ethikrat, beginnt zu bröckeln. Doch wenn Selbstbegrenzung nicht funktioniert, wer soll dann im Stande sein, die Wissenschaft "einzuhegen" und zu kontrollieren, zumal, wenn bestellte Gremien Agenten in eigener Sache sind und "die Öffentlichkeit" Adressat und nachfragender Produzent in einem ist? Darauf blieb auch diese Tagung eine Antwort schuldig.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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