Entzieht den Kirchen die Aufarbeitung!

Missbrauch Der Skandal innerhalb der katholischen Kirche reicht inzwischen bis zu einem Ex-Papst. Und der? Lügt die Öffentlichkeit frech an
Ausgabe 04/2022
Papst Benedikt XVI. wird vorgeworfen, durch systematisches Wegsehen, Vertuschen und Strafvereitelung ein Umfeld geschaffen zu haben, das es Sexualstraftätern ermöglichte, gegenüber Kindern „im Namen Gottes“ übergriffig zu werden
Papst Benedikt XVI. wird vorgeworfen, durch systematisches Wegsehen, Vertuschen und Strafvereitelung ein Umfeld geschaffen zu haben, das es Sexualstraftätern ermöglichte, gegenüber Kindern „im Namen Gottes“ übergriffig zu werden

Foto: Tony Gentile/AFP/Getty Images

Was muss noch alles passieren!? Schonungslos ist der Bericht eines Gutachter-Trios, das gerade wieder einmal freigelegt hat, was die katholische Kirche seit Jahrzehnten hinter einer Wand aus Schweigen verbergen möchte. Doch dieses Mal berührt der Skandal nicht nur Kirchenvertreter hierzulande, sondern auch einen Ex-Papst, er hat globale Dimensionen: Die mindestens 497 Fälle, die das Gutachten zwischen 1945 und 2019 für das Erzbistum München und Freising auflistet, mutmaßlich begangen von mindestens 235 Tätern, haben die höchsten Würdenträger der Weltkirche eingeholt.

Kardinal Reinhard Marx, seinem langjährigen Vorgänger Friedrich Wetter und dem zwischen 1977 und 1982 dort als Erzbischof wirkenden Kardinal Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., wird vorgeworfen, durch systematisches Wegsehen, Vertuschen und Strafvereitelung ein Umfeld geschaffen zu haben, das es Sexualstraftätern wie dem bereits gerichtsbekannten Peter H. ermöglichte, gegenüber Kindern „im Namen Gottes“ übergriffig zu werden.

Zwölf Jahre lang hat es gedauert, bis der Fall des offenbar mit gütigem Segen Ratzingers von Essen nach München gewechselten H. aufgedeckt wurde. Ein Seelsorger, der sich nur „als Privatmann“ vor Kindern entblößt, darin kann Ratzinger noch heute keine strafbare sexuelle Handlung erkennen, wie seiner 82-seitigen Einlassung zu entnehmen ist. Der besagten Sitzung, auf der entschieden wurde, den in Essen nicht mehr Geduldeten in Bayern unterzubringen, will der emeritierte Papst nicht beigewohnt haben. Die Dokumente besagen anderes. Es handele sich um einen „Redaktionsfehler“ in seinem Statement, räumte der in die Ecke Getriebene wenig später ein. Er sei doch dabei gewesen. Auf der Anklagebank muss er nicht die Wahrheit sagen. Aber was sind das für Verhältnisse, wo ein Ex-Papst der Öffentlichkeit derart frech ins Gesicht lügt? Gar nicht zu reden von den Betroffenen, die als Kinder ausgeliefert und als Erwachsene von selbstherrlichen Würdenträgern ignoriert wurden, wenn sie über ihr Leid berichteten.

Auf dem neu eingerichteten Online-Portal „Geschichten, die zählen“ kann man sich anhören, was ihnen angetan wurde und was jene verantworten, die das Auge Gottes zugedrückt haben. Man kann darüber verzweifeln oder so wütend werden, dass man einer solchen Kirche den Untergang wünscht. Mögen die, die ihr noch treu bleiben, ihren desavouierten Vorsänger Ratzinger davon überzeugen, dass zumindest eine persönliche Entschuldigung billig wäre.

Nein, es sind nicht nur Seelsorger, die Kindern sexuelle Gewalt antun, das passiert überall, und das Verbrechen wird nicht geringer, weil es innerhalb der Kirche geschieht. Aber mit ihrem moralischen Anspruch, ihrer institutionellen Eigenständigkeit und den daraus abgeleiteten Sonderrechten ist sie eben auch etwas Besonderes innerhalb der Gesellschaft. Es zeigt sich erneut, dass die Kirche zu Aufarbeitung ohne Rücksicht auf ihre höchsten Vertreter nicht fähig ist. Die hilflosen Reaktionen einiger peinlich berührter Bischöfe zeugen davon.

Im saarländischen Landtag wurde kürzlich darüber debattiert, den Kirchen den Aufarbeitungsauftrag zu entziehen. Das folgt dem Wunsch der Betroffenen, die eine gesetzlich verankerte unabhängige Aufarbeitungskommission fordern. Allerdings benötigte es dann auch Staatsanwaltschaften, die nicht, wie der Kriminologe Christian Pfeiffer kritisiert, bei ihren Ermittlungen „leise, respektvoll und auf Zehenspitzen“ auftreten. Wie eben in der Kirche.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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