Erbschaft ihrer Zeit

Kraftökonomie In "Älter werden" übt Silvia Bovenschen vornehme Selbstdistanz

Frauen, die pfeifen, und Hühner, die krähn, muss man beizeiten den Hals umdrehn, weiß der misogyne Volksmund, und wie für viele Emanzipationsbewegungen, haben auch die aufmüpfigen Frauen der siebziger Jahre diese Beleidigung produktiv gewendet und sich damals unter dem Titel Frauen, die pfeifen (1978) untereinander verständigt. Den herausfordernden Pfiff der Männer parierten sie mit einem - zugegeben mitunter schrillen - Pfeifkonzert, und stolz waren besonders die, die es auf Männerart auf zwei Fingern konnten. Allein dies, nämlich nie auf zwei Fingern pfeifen gekonnt zu haben, fällt Silvia Bovenschen ein, wenn sie sich zum Schluss ihrer Bestandsaufnahme Älter werden nach den Versäumnissen ihres Lebens fragt. Dabei hatte sie doch selbst alle akademischen Verabredungen elegant ausgepfiffen mit einem Buch über die schreibenden Frauen des 18. Jahrhunderts (Die imaginierte Weiblichkeit, 1979) und am normierten Bilderarsenal des Weiblichen den Ausschluss der realen Frauen nachgewiesen - "klappernde Dialektik", wie sie heute wahrscheinlich sagen würde.

Mit Älter werden, ihrem bescheiden als Notizen annoncierten Erinnerungsbuch, begibt sich die bis vor einigen Jahren in Frankfurt lehrende und mittlerweile in Berlin lebende Literaturwissenschaftlerin auf den schwankenden Boden der Erinnerung, besser: die "nicht bewusst gewordenen Erinnerungen", wie sie ihre Gewährsfrau Ilse Aichinger vorausschicken lässt. Zunächst sind es nur Bildpartikel: Wie sich mit dem Alter die Jahreszeiten verändern; wie die "dicken Pferde" ihrer Kindheit von den Straßen verschwanden; wie die braun verfärbten Tapeten der ausgebrannten Altbauwohnung und die Hinweisschilder auf den Luftschutzkeller an den Krieg erinnerten, den Bovenschen, Jahrgang 1946, nicht mehr erlebt hat. Eine relativ ruhige Nachkriegskindheit, behütet von älteren Eltern, die lebensgeschichtlich schon mehr auf dem Buckel hatten als nur eine Jugend im nationalsozialistischen Deutschland.

Dennoch spielte diese verschüttete oder wortreich verdrängte Geschichte auch in Bovenschens Umgebung eine für sie prägende Rolle. Sie ist der Maßstab, an dem sich die folgende Generation nicht nur moralisch misst, an ihr beobachtet sie das vertrackte System von Zeugenschaft und Erinnerungsselektion, die Verstricktheit der eigenen, privaten Geschichte in eine allgemein-kontaminierte. Dem Zufall verdanke sie es, so Bovenschen, dass sie vom Verderbnis des Krieges nicht berührt worden sei. Dennoch waren die Erlebnisse der Überlebenden präsent und die Kinder überfordert von diesen "Besiegten, die sich nicht klar zu erkennen gaben", egal ob sie in der Rolle von Landsern auftraten oder als Opfer des Bombenkriegs. "Vielleicht", räsonniert sie, "gründet das Schweigen der Väter meiner Generation nicht immer nur in einer Schuldverdrängung, sondern in manchen Fällen auch in einer vergeblichen Rettungsabsicht: dem Versuch der Rettung privater Erinnerungsidyllen."

Mit dieser Erfahrung im Nacken ist es nur folgerichtig, dass sich Bovenschen einer bündigen Narration verweigert: "Was tue ich hier? Geht es um die Rettung meines altgewordenen Ich? Was habe ich mit diesem Lügengespinst meiner erinnerten Ich-Legende zu tun?" Ihre Skepsis gegenüber einer durcherzählten, sinnstiftenden Biographie bestimmt auch ihren Rückblick. Statt eine Geschichte zu erzählen, ruft sie Stichworte auf: Mode, Eleganz und Jugend, Schönheit, Gastspiel, Generationenkampf, Heimat und so fort, scheinbar willkürlich zusammengewürfelt, flaneurhaft, so, wie das Gedächtnis sie aufgibt. Die kurzen Stücke - kleine Geschichten, Überlegungen, manchmal nur Sentenzen - schulden sich wohl auch der Kraftökonomie der Autorin, die seit 36 Jahren an Multipler Sklerose leidet und mittlerweile, wie ein Foto am Ende zeigt, auf den Rollstuhl angewiesen ist. Das hebt ihr privates "Älter werden" ab, nimmt sie aus dem allgemeinen Generationenzusammenhang, mit dem sie sich gleichzeitig eng verbunden fühlt.

Beginnend mit Kindheits- und Jugenderinnerungen in Frankfurt, taucht sie ein in "ihre" Zeit als "Achtundsechzigerin" "zu meiner Zeit ... bin ich schon aus einer allgemeinen Zeit herausgefallen?". Sie rekapituliert ihr "Gastspiel" als Lehrerin "nach all dem Revoltechaos ersehnte und erwartete ich Solidität und Seriosität - und fand Mißtrauen und Muff", schließlich die aufgehaltene akademische Karriere, weil man mit einer chronischen Krankheit nicht verbeamtet werden kann. Plötzlich dann wieder der Sprung ins Jahr 2001, der Umzug nach Berlin und der Kauf des "feuerroten Spielmobils", das ihr erlaubt, sich weiterhin im Straßenverkehr zu bewegen: "Irgendwie muß ich mir meinen letzten Autokauf anders vorgestellt haben."

Diese unterschwellige ironische Selbstdistanz - gelegentlich in der Form des Selbstinterviews - ist kennzeichnend für Bovenschens Haltung. Immer, wenn ein Gedanke zu überzeugen, ein Bild die eigene Biografie einzufangen scheint, tritt sie einen Schritt zurück, gleichgültig, ob es sich nur um eine "Alterssentenz" handelt, mit der "man Jüngeren auf die Nerven" gehen könnte, um den Zustand der Zähne oder die Kinderfrage. Dass sie sich als Kinderlose "in unruhiger Zeit" nun in der "›Fraktion der Egoisten‹" wiederfinde, räsoniert sie, würde sie als doppelte Bestrafung empfinden müssen, wenn sie sich Bitterkeit nicht überhaupt verboten hätte. Um dann in Klammern hinzufügen, dass sie über den Konjunktiv dieser Notiz noch einmal nachdenken müsse.

Gerade weil ihr die "abnehmenden Möglichkeiten" durch das Alter bewusst sind und es schwerer wird, die Balance zu halten, geht sie mit der allgegenwärtigen Altersdiskriminierung harsch zu Gericht. Der Jugendkult, der Jungbrunnen unterm Chirurgenmesser und die Zumutung, auch im Alter noch unbeschränkt leistungsfähig sein zu sollen bis hin zum Gebrauch der Löschtaste, wenn ein verstorbener Mensch aus dem elektronischen Notizbuch entsorgt wird - nichts entgeht ihrer manchmal altersmilden, gelegentlich etwas prätentiös daherkommenden Ironie.

Essentialismus jedweder Art ist Bovenschens Sache nicht, war er noch nie, auch nicht, als der Feminismus noch selbstbewusst auftrat und sich nicht in Institutionen versteckte. Doch von einer jungen Frau gefragt, ob sie sich als Feministin verstehe, antwortet sie provokant mit Ja - das sei eine Frage der Intelligenz. Selbst zu pfeifen und nicht auf die ausbleibenden Pfiffe der Männer angewiesen zu sein, andere Maßstäbe zu setzen als äußerliche Attraktivität, ist - trotz Eva Herman - eine Erbschaft "ihrer Zeit". Gut für die Nachkommenden, dass sie so davon berichtet hat, wohl wissend, dass auch der Geist unzuverlässig ist und jede Erinnerungsgeschichte per se fragwürdig bleibt.

Silvia BovenschenÄlter werden" target="_blank">Älter werden. Notizen. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2006. 154 S., 17,90 EUR, TB 8,95 EUR

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zum Geburtstag von F+

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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