Das gab es in der sozialpolitischen Geschichte der Bundesrepublik noch nie: Eine Reform, die ohne Retusche, ohne anästhesistische Begleitung, ohne schmerzstillende Sedierung die größten anzunehmenden Grausamkeiten einfach addiert und den Leuten als große OP verkauft, während die Hilfskräfte im Saal beanspruchen, "das Schlimmste verhindert" zu haben. Ausgerechnet von Sozialdemokraten ins Werk gesetzt, ist diese politisch und publizistisch überlang beatmetete Gesundheitsreform das, als was sie fast jeder Kommentar der vergangenen Woche geißelt: Sozial unausgewogen, wettbewerbsfeindlich, zu kurz gesprungen.
Die kaum noch verhüllte Absicht, die paritätisch finanzierte Gesundheitsversorgung abzuwickeln, den Versicherten die Lasten der Krankheit aufzuerlegen und die Dienstleister gleichzeitig ihrer Bringschuld zu entheben, versetzt konservative, sozialreformerische und marktliberale Gemüter gleichermaßen in Wallung. Sie beklagen unisono den "Triumph der Lobbyisten" (SZ), die sich erfolgreich gegen die Strukturreformer durchgesetzt hätten. Ärzte- und Apothekerwettbewerb - nicht mit den Medizinkartellen. Kassenfusion - kein Thema mehr. Ressourcenmaximierung und medizinischer Qualitätssprung - Professorengeschwätz. Dafür happige Zuzahlungen, Praxisgebühr, separate Krankengeld- und Zahnersatzversicherung, Streichung und Kürzung von Leistungen. Und eine Ministerin, die mit albernen Drohgebärden gegenüber den Kassen, denen mehr an Sanierung als an Beitragssenkung liegt, nachholt, was ihr in den Verhandlungen offenbar abgegangen ist: Konsequenz. Konsequent an dieser großkoalitionären Sanierungsmaßnahme ist nur eines: Der Bruch mit einem sozialpolitischen Konsens, der viel mehr als nur Beitragsparität beinhaltet.
Nichts treibt die Leute derzeit so um wie ihre Gesundheits- und Altersversorgung - und nie hat die Politik sie stärker verunsichert. Wenn aber künftig mehr für Vorsorge aufgewendet werden muss, ist der konsum- und beschäftigungspolitische Effekt der vorgezogenen Steuerreform mehr als in Frage gestellt. Hans Eichel muss das ähnlich sehen, doch statt rechtzeitig zu bremsen, verbeißt er sich mit seiner Ministerkollegin in einen fruchtlosen Streit um die Tabaksteuer. Und die letzten Partei-Wächter des Sozialstaats haben diese Runde schlicht verpennt und reiben sich nun entsetzt die Augen - vielleicht weil sie zu sehr auf den brückenbauenden Unions-Mann gesetzt haben.
Der aber hat die Widersacher nicht nur nonchalant übers Geländer gekippt, sondern auch noch eine urgrüne Insel besetzt. Dabei ist die nun entbrannte Debatte um eine Bürgerversicherung, für die Seehofer "kämpfen will", kein reines Ablenkungsmanöver. Mag die Einsicht, dass mit dieser Reform höchstens ein paar Jahre bis zum nächsten Finanzcrash der Kassen zu überbrücken sind und die heutigen Versicherten nicht endlos als Zahlmeister herangezogen werden können, eine Rolle spielen. Aber bereits der Begriff Bürgerversicherung deutet darauf hin, dass das Unternehmen sozialhygienischer Natur ist und auf die zu offensichtlich gewordene Verteilungsungerechtigkeit reagiert. Schon jetzt gibt es Politiker, die sich allen Ernstes um das Einpunkteprogramm "Bürgerversicherung" - nicht zu verwechseln mit dem längst zu Grabe getragenen, die Leistungsgesellschaft tatsächlich untergrabenden "Bürgergeld für alle" - scharen wollen.
Die Bürgerversicherung als sozialpolitisches Projekt ist simpel und in sich logisch: Jeder zahlt entsprechend seines Gesamteinkommens und Vermögens einen Tribut. Das verteilt die Last auf viele Schultern und entlastet den Faktor Arbeit, weil alle Einkommensarten herangezogen werden. Dem Gerechtigkeitsaspekt der Bürgerversicherung können sich selbst Unionspolitiker nicht entziehen, zumal die finanzpolitischen Vorteile - Abkopplung der Kassenlage von der Konjunktur - auf der Hand liegen. Und doch rumort es - nicht nur in Unionsmägen. Die Bürgerversicherung ist nämlich auch ein ideologisches Projekt. Nur so ist die plötzliche Strahlkraft des Begriffs erklärlich.
Die Bürgerversicherung, so scheint es, stiftet den aufgegebenen sozialpolitischen Konsens neu. In ihr sammeln sich alle Bürger und Bürgerinnen, ungeachtet des Besitzes. Was keine große Volkspartei heute mehr zustande bekommt - Sammlungsbewegung zu sein - überträgt sich auf das Gemeinschaftswerk Bürgerversicherung. Das ist historisch nicht einmal so abwegig: Die Genossenschaftsbewegung war bekanntlich auch eine Versicherungsgemeinschaft. Und angesichts der ins Trudeln geratenen Privatversicherungen, die die Riester-Rente ebenso windig erscheinen lassen wie die künftig abzuschließenden Zusatzversicherungen, scheint man mit einer Bürgerversicherung auf der sicheren Seite.
Eben diese vorgebliche Sekurität in einer Welt, die als zunehmend dereguliert und unsicher erlebt wird, macht die Attraktivität des Projekts aus. Und ein Zweites: Mit der Bürgerversicherung partizipieren alle - zumindest in einem gewissen überschaubaren Rahmen - an den verfügbaren gesellschaftlichen Ressourcen. Auf diese - vorläufig einzige - Möglichkeit der "Demokratisierung des Volksvermögens" in Form der Versicherung und ihre sozialpsychologischen Wirkungen hat der Soziologe Emil Lederer bereits nach dem Ersten Weltkrieg hingewiesen. In demagogischer Absicht sprechen FDP und CDU deshalb davon, mit der Bürgerversicherung die Planwirtschaft durch die Hintertür wieder einzuführen. Ein bescheidenes Projekt, in der Tat, wenn man es mit dem staatlichen Privatisierungsfuror vergleicht oder den alten sozialistischen Zielmarken. Man wird sehen, wie viel den Volksparteien die Volksaktie Gesundheit wert ist.
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