„Reformen sind keine schlechte Alternative zur Revolution“, bestimmte Grünen-Wortführer Fritz Kuhn 1991 den Standort des Realo-Flügels seiner Partei und empfahl die Grünen als Dompteure der industriellen Marktmonopole. Ein Jahr später fuhren die rechten Parteien, voran die Republikaner, 14 Prozent bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg ein, angesichts einer an Geschmacklosigkeit kaum zu überbietenden Asyl-Debatte. Die Landes-Union probte unter der Federführung von Erwin Teufel daraufhin ihr erstes Techtelmechtel mit den Grünen, ein Novum in der bundesdeutschen Parteiengeschichte.
Die „Braut“, von der damals viel zu lesen war, hatte ihre Unschuld verloren – aber wer hätte sich je vorstellen können, dass sie selbst einmal auf Brautschau gehen und die Union in einer Art eingetragener Lebenspartnerschaft heimführen könnte in die Amts-Villa Reitzenstein? Der inzwischen zum Stuttgarter Oberbürgermeister aufgestiegene Kuhn denkt weiter: Er hält die Zeit für reif, „Wirtschaft und Ökologie im Bund nun endlich zusammenzuführen“.
Eigentlich galt bislang Hessen als Experimentierfeld für gewöhnungsbedürftige Regierungsmenüs. 1985 wurde in Wiesbaden die erste rot-grüne Landesregierung vereidigt, seit 2013 regiert dort ohne größeres Aufsehen eine schwarz-grüne Koalition unter Volker Bouffier und dem grünen Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir, beide einem schwarz-grünen Probelauf auf Bundesebene ebenfalls nicht abgeneigt. Al-Wazir empfahl seiner Partei kürzlich, nach der nächsten Bundestagswahl eine Koalition mit der Union nicht grundsätzlich auszuschließen, denn mit Angela Merkel könne man „vernünftig reden“.
Ähnlich sieht es sein aus Hessen stammender Kollege Omid Nouripour, der zur Pizza-Connection gehörte, die beim Italiener schon früh die Geschmacksvariante Schwarz-Grün testete. Dass die Union in Baden-Württemberg nun einen Kretschmann als Kröte schlucken muss, ist eher eine landesspezifische Spezialität. Auf mehr als 10 bis 15 Prozent dürfen die Grünen im Bund kaum hoffen.
Dennoch wird in beiden Parteien schon heftig an der neuen Option gewerkelt. Für Tübingens Bürgermeister, Boris Palmer, ist Schwarz-Grün die bevorzugte Allianz, wie er schon vor den Wahlen wissen ließ. Er regte bei Merkel an, Seehofer aus der Regierungskoalition zu werfen und die Grünen mit reinzunehmen, „weil das eine viel konsistentere Politik ergeben würde“.
Nach der Wahl stellte Grünen-Chef Cem Özdemir dann klar, dass die Grünen von den früheren Erfolgen der baden-württembergischen Union auch lernen könnten – eine „gute Industriepolitik“ zum Beispiel. Auch er hält eine Koalition mit den Konservativen im Bund nicht mehr für ausgeschlossen und unter drei Bedingungen sogar für möglich: Deutschland müsse aus der Kohle aussteigen, eine Regierung unter Grünen-Beteiligung sollte sich für einen „europäischen Masterplan für Nordafrika“ – wo immer er das verortet – einsetzen und für ein „nicht mehr an Herkunft und Geldbeutel orientiertes Bildungssystem“ sorgen. Jedenfalls fiele seiner Partei „kein Zacken aus der Krone“, wenn sie sich nach so langer Zeit in der Opposition nun nach neuen Mehrheiten umschaue.
Dass nun auch der Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter diesen Chor verstärkt, lässt erkennen, wie ernst die grünen Absichten sind. Wenn die grün-schwarze Koalition im Südwesten ähnlich gut zusammenarbeite wie Schwarz-Grün in Hessen, sähe er im Bund keine unüberwindbaren Probleme. „Ich will“, sagt Hofreiter, „dass Grüne 2017 realistische Machtoptionen haben.“ Dafür nähme er sogar Seehofers CSU in Kauf.
Machtgewinn für die grüne Seite bedeutet zugleich Machterhalt für die andere Seite – die Union. Für Kanzlerin Merkel ist das mit der AfD und einer immer unkalkulierbarer werdenden Vielparteienlandschaft nicht einfacher geworden. Ihr primäres Ziel ist es, dass auch in einer künftigen Regierung die Union die Führung übernimmt, (fast) egal mit wem. Die alten, sich radikal gebenden Herren in der Partei wie Heiner Geißler hatten stets davor gewarnt, sich voreilig auf eine Koalitionsoption zu versteifen. Geißler hält das Kretschmann-Experiment für „ein Bündnis für die Zukunft“.
Nur noch Phantom
Mit Generalsekretär Peter Tauber, der Sympathien für die grüne Einwanderungs- und Integrationspolitik hegt, hat das Projekt einen renommierten Befürworter. Er will die Union schon länger „jünger, bunter, weiblicher“ machen, und eine schwarz-grüne Koalition böte dafür den Laufsteg.
Wenn Thomas Strobl, derzeit in der Verhandlungsführung über Grün-Schwarz, dann noch zurück ins Land wechselte, im Kretschmann-Kabinett mit einem wichtigen Ministerposten auf Erfolgskurs ginge, würde ein weiterer Bündnis-Trompeter via Berlin antreten. Auch wenn er, wie er sagt, nicht für eine „Liebesheirat“ blase.
Natürlich gibt es auch gewaltige Gegner einer schwarz-grünen Unternehmung. Doch der linke Flügel bei den Grünen ist, nachdem die rot-grüne Koalition nur noch als Phantom existiert und nicht einmal Rot-Rot-Grün realistische Chancen hat, in die Defensive geraten. Der Stratege Jürgen Trittin glaubt aber nicht an den schwarz-grünen Pakt, weil er davon ausgeht, dass sich die Union im Bündnis mit den Grünen „zugunsten der AfD weiter kannibalisieren“ würde. Wie andere Linke kann sich auch die sächsische Bundestagsabgeordnete Monika Lazar ein bundesweites Bündnis mit der Union „nur äußerst schwer vorstellen“, wie sie dem Neuen Deutschland erklärte. Dass die „Grünen-Fresser“ in der Union – von der CSU gar nicht zu reden – eine verbreitete Spezies sind, ist bekannt.
Allerdings erledigen sich mit schwarz-grün gefärbten Koalitionen die grundsätzlichen Probleme der Parteien nicht. Zu bedenken gibt das ausgerechnet ein bei den Grünen wenig geschätzter Konvertit, der 2007 von den Grünen in die Union gewechselte Finanzexperte Oswald Metzger. Er ist zwar davon überzeugt, dass sich die Grünen mittlerweile so weit dem Milieu ihrer „Eltern“-Partei CDU angenähert hätten, dass sich die kulturellen Gräben überwinden ließen. Doch auch die Grünen hätten wie alle anderen Parteien den Kontakt zu den parteifernen Protestwählern, die früher einmal ihre Klientel waren, völlig verloren und kein Konzept gegen deren „wachsenden Hass und Verdruss“. In Baden-Württemberg haben knapp 70.000 Wähler den grünen Weg hinter sich gelassen, um ins blaue Nirwana der AfD abzuwandern.
Der Mitte März verstorbene ehemalige Ministerpräsident Lothar Späth, mit Heiner Geißler der zweite der „Viererbande“ der Verschwörung gegen Helmut Kohl, hätte wohl seine Freude an einem schwarz-grünen Amalgam, aus dem das Ländle noch strahlender erwächst. Wie umgekehrt grün-schwarzes Regieren geht, kann man in der Niederung des Stuttgarter Talkessels, über den Fritz Kuhn herrscht, besichtigen. Dort haben die grünen und schwarzen Stadtkämmerer der verschuldeten Stadt Ende 2015 ein Spardiktat verordnet. Unter anderem soll die Flüchtlingsbetreuung nicht von Sozialarbeitern, sondern von Teilnehmern des Sozialen Jahres oder des Bundesfreiwilligendienstes übernommen werden.
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