„Es wird immer noch verdrängt“

Im Gespräch Der Missbrauchsbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig über zögerliche Politiker und mangelnde Aufklärung
Ausgabe 29/2014
Rörig möchte, dass Lehrerinnen und Lehrer für die Gefahren sensibilisiert werden
Rörig möchte, dass Lehrerinnen und Lehrer für die Gefahren sensibilisiert werden

Foto: Christine Fenzl

Trotz der vielen Skandale zu sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen ist das Interesse an einer umfassenden Aufarbeitung nach wie vor gering. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, übt dieses Amt seit 2011 aus. Er kritisiert, dass sich die Gesellschaft nach wie vor nicht intensiv genug mit dem Thema auseinandersetzt.

Der Freitag: Nach der Bundestagswahl war zunächst unklar, ob Ihr Amt weiter besteht. Nun sind Sie wieder 100 Tage im Amt. Worüber haben Sie sich am meisten gefreut, was hat Sie am meisten geärgert?

Johannes-Wilhelm Rörig: Gefreut habe ich mich über die gute Arbeitsgrundlage im Koalitionsvertrag. Die noch nicht umgesetzten Empfehlungen des Runden Tisches von 2011 sind dort wieder auf die Werkbank der Politik gelangt. Es geht um Schutzkonzepte, schnellere Hilfen für Betroffene. Wichtig war mir auch eine Betroffenenbeteiligung auf Bundesebene. Leider konnte sich die Große Koalition aber nicht dazu durchringen, eine gesetzliche Grundlage für das Amt eines Missbrauchsbeauftragten zu schaffen. Das spüre ich auch in der täglichen Arbeit.

Von 16 Bundesländern haben bisher nur zwei – das arme Mecklenburg-Vorpommern und Bayern – in den Entschädigungsfonds eingezahlt. Warum dieses Zögern?

Ich hätte es begrüßt, wenn man im Koalitionsvertrag dafür eine Lösung gefunden hätte und der Finanzierungsstreit zwischen Bund und Ländern nicht weiter auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen würde. Die Länder sind der Auffassung, dass die Entschädigungsleistungen für sexuellen Missbrauch im familiären Bereich vom Bund alleine getragen werden sollten. Es geht ihnen darum, kein Parallelsystem für Missbrauchsopfer zu schaffen, sondern die Regelsysteme insgesamt zu verbessern. Hintergrund sind möglicherweise auch die Erfahrungen aus dem Heimkinderfonds Ost und West und die gerade beschlossenen Nachschusspflichten. Die Länder fürchten ein unkalkulierbares Finanzierungsrisiko.

Eine weitere Baustelle ist die von Justizminister Heiko Maas in Angriff genommene Reform des Sexualstrafrechts. Sie sagen, der Runde Tisch sei beim materiellen Strafrecht zu kurz gesprungen. Was meinen Sie damit?

Zur großen Überraschung hatte der Runde Tisch beschlossen, dass es im Hinblick auf die Straftatbestände zu sexuellem Kindesmissbrauch keinen Änderungsbedarf gibt. Jetzt werden aber endlich ärgerliche Schutzlücken geschlossen, zum Beispiel im Hinblick auf sämtliches pädagogisches Personal wie Vertretungslehrer oder soziale Beziehungspartner wie Groß- und Stiefeltern. Meine zusätzliche Forderung ist, auch nichtpädagogisches Personal in den Strafrechtsschutz einzubeziehen, also beispielsweise den Hausmeister an Schulen, den Sportplatzwart oder Busfahrer.

Die Verschärfung des Sexualstrafrechts umfasst auch Kinderpornografie. Der vom Justizministerium vorgelegte Entwurf ist bei Sachverständigen auf wenig Gegenliebe gestoßen. Wie ist Ihre Position dazu?

Für mich ist wichtig, dass das „Posing“ von Kindern, also die Ablichtung von nackten Kindern in „unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung“ in Paragraf 184b aufgenommen wurde. Urlaubsfotos fürs Familienalbum, eigene Kinder, die nackig im Wasser planschen, sind weiterhin straffrei möglich. Nur wer in extremer Weise seine eigene Elternposition missbraucht, soll belangt werden können.

Ein wichtiges Ziel Ihrer Behörde ist die Einrichtung einer unabhängigen Kommission für die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der Vergangenheit. Reicht es nicht, wenn die Opfer gehört und entschädigt werden?

Sexueller Missbrauch ist bei uns dann besonders präsent, wenn er zum Skandal taugt. Wir müssen aber kontinuierlich die gesellschaftlichen Strukturen aufdecken und benennen, die im familiären Bereich zum Missbrauch führen, und wir müssen etwas über die Bedingungen wissen, die sexuellen Missbrauch in Institutionen befördern. Das ist über die Anhörung von Betroffenen durch unabhängige Experten möglich. Und für die Betroffenen ist es wichtig, wenn das Leid, das ihnen zugefügt wurde, öffentlich anerkannt wird.

Missbrauch also als politisch opportuner Skandal, aber ansonsten lebt die Gesellschaft lieber mit ihren dunklen Flecken als ein allzu scharfes Aufklärungslicht in die Kinder-, Schul- und andere Zimmer zu werfen?

Ja, diese Einschätzung teile ich. Das spüre ich auch bei meiner Arbeit. Es gibt erhebliche Abwehr- und Verdrängungsmechanismen, das Thema ist für viele so erschreckend, dass sie sich damit am liebsten gar nicht befassen. Deshalb tun sich Politiker auch so schwer mit der Einrichtung einer unabhängigen Aufarbeitung. Sie glauben offenbar, dass das Problem mit der Einrichtung eines Missbrauchsbeauftragten aus der Welt geschafft sei.

Seitens der Betroffenen gab es viel Kritik an der Arbeit des Runden Tisches. Geplant ist nun ein Betroffenenrat. Welche Rolle spielt er?

Betroffene wollen als Expertinnen und Experten in eigener Sache in die Prozesse einbezogen werden. Deshalb habe ich mit ihnen zusammen im vergangenen Jahr eine Konzeption erarbeitet, wie eine sachgerechte, systematische und kontinuierliche Beteiligung an meiner Arbeit ermöglicht werden könnte. Ich werde als Missbrauchsbeauftragter eine Scharnierfunktion haben: Ich muss den Rat frühzeitig über geplante Maßnahmen informieren und gleichzeitig seine Mitwirkungsrechte garantieren.

Hätte ein solcher Rat auch Einfluss auf die Ausarbeitung von Präventionskonzepten?

Auf jeden Fall. Wir haben die Betroffenen aber schon von Anfang an an der Entwicklung unserer Vorhaben beteiligt, beispielsweise beim „Hilfeportal Sexueller Missbrauch“ oder bei der Kampagne „Kein Raum für Missbrauch“. Auch in meinem Beirat sind Betroffene vertreten.

Sie betonen, Schulen komme bei den Präventionskonzepten eine Schlüsselstelle zu. In der öffentlichen Wahrnehmung sind Schulen aber vor allem Tatorte.

Deshalb müssen wir Schulen von Tat- zu Kompetenzorten machen. Kinder, die im familiären Umfeld sexuellem Missbrauch ausgesetzt sind, suchen gerade in der Schule Vertrauenspersonen, an die sie sich wenden können. Lehrerinnen und Lehrer müssen dafür sensibilisiert werden, entsprechende Gefahren zu erkennen und Hilfsmaßnahmen in die Wege zu leiten.

Zum Schluss noch eine Frage: Sie sprechen hier durchweg von „sexuellem Missbrauch“ von Kindern und Jugendlichen. Es gibt von vielen Seiten Kritik an diesem Begriff, weil er einen richtigen „Gebrauch“ impliziert. Warum halten Sie daran fest?

In Fachkreisen spreche ich meist von sexualisierter Gewalt. Wenn ich aber im juristischen Kontext spreche oder die breite Öffentlichkeit im Blick habe, nehme ich die entsprechende juristische Formulierung – also „sexueller Kindesmissbrauch“ –, wie sie in den Straftatbeständen fixiert ist und auch in der Öffentlichkeit verwendet wird. Wir haben diese Begrifflichkeiten ausführlich auch mit Betroffenen und in meinem Fachbeirat diskutiert. Missbrauch als Begriff für sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen ist in der Bevölkerung fest verankert, und wir brauchen dieses Keyword für die Kommunikation. Wir haben uns sehr intensiv damit auseinandergesetzt und uns sogar von der Deutschen Gesellschaft für deutsche Sprache beraten lassen, sie bestätigten unser Wording.

Was unternommen wird

Nach der geplanten Reform des Sexualstrafrechts beginnt die Verjährungsfrist künftig erst mit dem 30. Lebensjahr; sexueller Missbrauch von Jugendlichen wird in diese Regelung mit aufgenommen. Außerdem sollen gravierende Schutzlücken geschlossen werden (etwa Missbrauch durch Groß- oder Stiefeltern). Bildaufnahmen von Kindern „in unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung“ sollen unter Strafe gestellt werden. Noch in diesem Jahr wird ein Betroffenenrat mit 15 Mitgliedern eingerichtet, um die Opfer in die Ent-wicklung von Schutzkonzepten einzubeziehen. In den Hilfsfonds haben zwei Länder bislang 60 Millionen Euro ein-gezahlt. 1.239 Anträge auf Hilfe-leistungen gingen ein, 354 Anträge wur-den beschieden und dafür 1,8 Millionen Euro bewilligt; für kon-kret beanspruchte Hilfen wurden 243.000 Euro ausbezahlt. uba

Johannes-Wilhelm Rörig folgte 2011 als Missbrauchsbeauftragter seiner Vorgängerin Christine Bergmann im Amt und wurde im April 2014 für weitere fünf Jahre bestätigt. Der ehemalige Rich- ter und hohe Beamte im Familienministerium legt bei seiner Arbeit großen Wert auf die Beteiligung der Betroffenen

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Mit Lust am guten Argument

Das Gespräch führte Ulrike Baureithel
Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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