2003 initiierten die Spitzenverbände der Pflegekassen einen Modellversuch. Probehalber sollten die bislang nur für Sachleistungen gewährten Mittel flexibler eingesetzt werden können, um den pflegebedürftigen Menschen die Möglichkeit zu geben, Leistungen nach ihren Bedürfnissen auf dem Pflegemarkt einzukaufen. Nach vier Jahren ist das Projekt, an dem 900 Menschen aus sieben Regionen teilnahmen, abgeschlossen und die ersten Erfahrungen liegen vor.
Frau B. ist 74 Jahre alt und bezieht seit April 1997 Leistungen aus der Pflegeversicherung. Seit dem Tod ihres Mannes lebt sie allein. Und seit 2003 auch noch ihr Sohn an einem Hirntumor gestorben ist, macht Frau B. eine Phase tiefer Trauer durch. Zu den beiden anderen Kindern hat sie kaum Kontakt, Lebensmittelpunkt sind ihr Hund Thommy und Wellensittich Pucki. Doch Frau B. fällt es zunehmend schwerer, ihre Haustiere zu versorgen, immer wieder verrichtet der Hund sein "Geschäft" in der Wohnung. Die vom Pflegedienst zuständige Mitarbeiterin geht Frau B. bei der Körperpflege und bei der Hausarbeit zur Hand, die Versorgung der Tiere ist im Sachleistungsbezug der Pflegeversicherung jedoch nicht vorgesehen.
Auch mal Gassi gehen mit dem Hund
Der Fall von Frau B. ist typisch für viele häusliche Pflegesituationen: Wenn keine Angehörigen oder sonstigen Personen bereitstehen, die die Pflege übernehmen, springt die Versicherung mit Sachleistungen ein, das heißt, es werden Mittel für professionelle Dienste bereitgestellt, um die Versorgung der Betroffenen zu gewährleisten. Dabei liegen die Sachleistungen erheblich höher als das Pflegegeld in der entsprechenden Stufe. Abgeschlossen wird der Vertrag zwischen der Pflegekasse und den Diensten, die Betroffenen haben wenig Einfluss darauf. Doch die Anbieter sind streng an die gesetzlichen Vorgaben gebunden, die Pflegemitarbeiter zeitlich stark reglementiert und können deshalb oft nicht auf die tatsächlichen Bedürfnisse der pflegebedürftigen Menschen eingehen. Viele Betroffene klagen zum Beispiel, dass sie viel zu früh aufstehen und zu Bett gehen müssen, ihre Mahlzeiten nicht erhalten, wenn sie Hunger haben, sondern dann, wenn der Essensdienst die Route abfährt und dass die Betreuer oft keine Zeit haben, sich mit den Belangen ihrer Schützlinge - wie beispielsweise die Versorgung der Tiere von Frau B. - zu befassen. Das schränkt die Lebensqualität und Autonomie von alten, kranken oder behinderten Menschen erheblich ein, sie haben das Gefühl, ihr Leben nach den Erfordernissen der Dienste ausrichten zu müssen, statt dass sich umgekehrt die Dienste an ihren Bedürfnissen orientieren.
Deshalb haben die Spitzenverbände der Pflegekassen 2003 das groß angelegte Modellprojekt "Pflegebudget" auf die Sozialschiene gebracht, aus dem nach vier Jahren nun die Abschlussergebnisse vorliegen. Statt wie üblich Sachleistungen von der Pflegekasse in Anspruch zu nehmen, erhielten die knapp 900 Teilnehmer in den sieben Test-Regionen ein ihrer Pflegestufe entsprechendes Geldäquivalent, mit dem die Betroffenen so genannte Care-Leistungen auf dem freien Markt einkaufen konnten. Sowohl die Budgetnehmer als auch die Dienste waren im Rahmen des Modells vom "Verrichtungsbezug" befreit und konnten sich somit ganz auf den individuellen Fall einstellen.
Voraussetzung für die Teilnahme war die Bereitschaft, mit einem Fallmanager (Case Manager) zusammenzuarbeiten. Dieser ermittelt, welche Hilfe erforderlich ist (und in welchem Umfang), entwirft zusammen mit den Betroffenen einen Pflegeplan und kontrolliert dessen Umsetzung. Im Fall von Frau B., einer der 900 "Budgetnehmerinnen", erkannte die Fallmanagerin schnell, dass diese sich in einem Trauerprozess befand und über die normale Versorgung hinaus persönliche Zuwendung und Unterstützung bei der Haustierversorgung benötigte. Durch das persönliche Budget konnte Frau B., die wegen der Tiere keinesfalls ins Heim wollte, die Mitarbeiterinnen ihres Pflegedienstes dafür gewinnen, je nach Bedarf vorbei zu kommen, sie zu versorgen oder zum Friseur oder zum Arzt zu begleiten und außerdem noch Spaziergänge mit dem Hund zu unternehmen. Sie hätte sich diese Unterstützung aber auch nicht bei einem Pflegedienst, sondern auf dem Markt besorgen können, indem sie einen Minijob oder gar einen festen Teilzeitjob angeboten hätte. Eine Schülerin wäre dann vielleicht mit dem Hund Gassi gegangen, eine Nachbarin hätte die Hauswirtschaft übernommen und eine Pflegerin die Grundpflege. Frau B. wäre also als Auftraggeberin in Erscheinung getreten, die Leistungen einkauft und über deren Art und Umfang bestimmt.
Wenn die Netzwerke brüchig werden
Ganz so philantrop wie es den Anschein haben mag, waren die Motive für das Modellprojekt indessen doch nicht. Die "Flexibilisierung des Leistungsrechts" nach § 8 Abs. 3 des Pflegeleistungsergänzungsgesetzes von 2001, das solche Experimente erlaubt, war vielmehr eine Folge der Prognosen seitens der Herzog- und Rürup-Kommissionen, die beide übereinstimmend von einem erheblichen Anstieg des Pflegebedarfs bei gleichzeitigem Rückgang des Pflegepotenzials ausgehen. Bis 2050, so auch Baldo Blinkert, der das Projekt wissenschaftlich begleitete, ist mit einer Bedarfsverdoppelung zu rechnen, während die Zahl der Personen, die die Versorgung älterer Menschen übernehmen könnten, gegenüber heute um ein Drittel zurückgehen wird. Diese auseinanderklaffende Schere ist nicht nur auf die künftige demographische Situation zurückzuführen, sondern auch auf die Mobilitätsansprüche der Wirtschaft, die den Menschen in Zukunft noch weniger Zeit lassen werden, sich um versorgungsbedürftige Kinder und Alte zu kümmern. Dabei könnten sich uns heute vertraute Privilegierungen, so Blinkert weiter, demnächst sogar umkehren: Die gut gebildeten, derzeit bevorteilten Schichten in den Städten werden zu denen gehören, die im Alter über weniger Netzwerke verfügen als die in eher traditionellen und ländlichen Strukturen lebenden Menschen.
Mit dem Modell, so Projektleiter Thomas Klie von der Evangelischen Fachhochschule Freiburg, waren von Anfang an große und disparate Projektionen verknüpft. Während die Politik darauf spekuliert, die Kosten im Pflegebereich zu senken und Heimeinweisungen zu vermeiden, versprechen sich die Budgetnehmer, ihre Pflegesituation besser gestalten zu können. Die Dienste wiederum standen dem Projekt skeptisch bis ablehnend gegenüber: Sie fürchteten um ihr Marktsegment, prophezeiten Qualitätsrückgang, den Verlust von Arbeitsplätzen und misstrauten außerdem der neuen Patientenautonomie. Cash for Care ist mit der paternalistischen deutschen Pflegestruktur nur schlecht vereinbar. Doch ausgerechnet Großbritannien, das Land, das einst damit warb, seine Bürger "von der Wiege bis zur Bahre" zu hätscheln, geht diesen Weg. Bei der Einführung des persönlichen Budgets erklärte Gordon Brown: "Unser Ziel ist es, den Bürgern die Kontrolle zu überlassen."
Entlastung und neue Souveränität
Die deutschen Erfahrungen mit dem Modell sind positiv, soweit sie die Pflegearrangements betreffen: Vergrößert hat sich der Zeitumfang der Pflege, das heißt, die Betroffenen verfügten über mehr Hilfe und sie konnten stärker als vorher über die Art der Dienstleistungen bestimmen. Insbesondere die individuelle Zuwendung im zwischenmenschlichen Bereich und der flexible Einsatz der jeweiligen Betreuer wurde als positiv erlebt. Positive Effekte durch das Pflegebudget ergaben sich auch für die Angehörigen. Vieles von dem, was bislang von ihnen übernommen werden musste und sie nicht selten überforderte, wurde nun von einem Marktsegment übernommen, das zwischen informellem Sektor - also Angehörigen, Nachbarn und Freunden - und professionellen Diensten angesiedelt ist: Der Weg zur Krankengymnastik kann dank dem Budget nun mit dem Taxi zurückgelegt werden, die Wäsche wird von der Wäscherei oder einem Hausdienst übernommen, was vielleicht sonst nur ehrenamtlich geleistet werden könnte - Vorlesen oder Spazierengehen - wird nun bezahlt. Das entlastet nicht nur die Angehörigen, sondern auch die Betreuten selbst: Frau B. etwa ließ es sich auch vorher nicht nehmen, der Pflegerin ein Taschengeld für die Grundpflege zu geben; mit dem Budget bezahlte sie sie unmittelbar und hatte dabei ein besseres Gefühl.
Die Befürchtung, die Pflege würde dequalifiziert und die Professionellen überflüssig machen, konnten die Wissenschaftler nicht bestätigen. Der Anteil der professionellen Versorgung blieb konstant, ebenso übrigens der der ehrenamtlichen Hilfen, was dafür spricht, dass auch das persönliche Pflegebudget das Prinzip der Subsidiarität nicht erledigt. Unklar bleibt allerdings, wer überhaupt Interesse am Pflegebudget hat. Viele Angehörige, die Pflegegeld beziehen und entweder selbst pflegen oder Schwarzarbeit finanzieren, sicher nicht. Für viele Haushalte ist das Pflegegeld ein wichtiges und unverzichtbares Einkommen, nur über diesen Köder war die Pflegeversicherung überhaupt durchsetzbar. Insofern ist das Budget, das gerade nicht an Angehörige weitergegeben werden darf, für viele Betroffene keine Alternative; und ob der Weg von der Schwarzarbeit in den Niedriglohnsektor für die Dienstleistenden attraktiv ist, darf ebenfalls bezweifelt werden. Im rheinland-pfälzischen Behindertenbereich allerdings, wo zeitgleich das "integrierte Budget" getestet wurde, sind die Erfahrungen eindeutig positiv. Hier geht es um verstärkte Teilhabe oft jüngerer Erwachsener, die über die Kompetenzen verfügen, das Budget zu verwalten und die damit eröffneten Freiheiten zu nutzen.
Nicht zu verhehlen sei, so die Begleitforscher, dass das Modell bei den Budgetnehmer ein hohes Maß an Selbstständigkeit und Durchsetzungsvermögen voraussetzt, zum Beispiel in der Funktion als Arbeitgeber. Die Dienste übernehmen nun nur noch die Kernleistung, alles andere - Bedarfsermittlung, Suche nach Hilfen, Vertragsabschluss und Leistungskontrolle - müssen Fallmanager und Betroffene leisten. An dieser unterstützenden Infrastruktur, vor allem an einem flächendeckenden Netz von Case Managern, aber mangelt es, gleichzeitig sind die sozialen Milieus und Bedarfslagen so komplex, dass der Aufwand, jedem Einzelfall gerecht zu werden, sehr hoch ist.
Auf der politischen Agenda steht das Pflegebudget ohnehin nicht gerade an der Spitze. Zum einen sind die ökonomischen Effekte bislang nicht deutlich absehbar, die Pflegekassen werden vom Budget nicht unmittelbar entlastet, es sei denn durch die Vermeidung von Heimeinweisungen. Entscheidender jedoch ist, dass Politik und Lobbyisten die Erosion des gesamten Pflegesystems fürchten, wenn marktautonome Pflegebedürftige nach Ermessen und Interessen handeln. Es gehört zu den unauflösbaren Paradoxien der heutigen Sozialpolitik, dass im Gesundheitssystem der "mündige Patient" nachdrücklich als "Kunde" geworben wird, während man ihn im Pflegesystem fürchtet oder ihm eine solche Kompetenz nicht zutraut.
Einen Generalausweg aus der absehbaren Pflegemisere, stellte Projektleiter Klie klar, ist das Budget ohnehin nicht, sondern höchstens ein Weg neben vielen anderen. Nicht nur, dass das Budget nicht auf jeden Einzelfall passt - es passt auch absolut nicht "in die gegenwärtige Sicherungsarchitektur der deutschen Pflege". So lange mit dem relativ niedrigen Pflegegeld - noch - der Löwenanteil der Pflegearbeit bewältigt werden kann, wird der politische Wille fehlen, das Pflegebudget durchzusetzen. Wer es aber wirklich ernst damit meine, das heißt mehr als nur eine weitere Leistungsoption der bestehenden Pflegekasse wolle, der müsse, so Klie, eine systemübergreifende Reform in Angriff nehmen und eine neue Pflegekultur ausbilden. Denkbar wäre dann auch ein Pflegegeld, das in Analogie zum Elterngeld Lohnersatzfunktion hätte.
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