Extrem herbe Zeiten

Corona Die Krise legt die Schwächen des Bildungssystems offen. Viele Schüler verlieren den Anschluss
Ausgabe 21/2020
Extrem herbe Zeiten

Montage: der Freitag; Material: Hulton Archive/Getty Images, Freepik

Horror! In diesem Ausruf einer dänischen Mutter, als sie erfährt, dass die älteren Kinder womöglich noch bis zu den Sommerferien zu Hause bleiben müssen, bündeln sich alle aktuellen Ängste von Frauen. Der Stress, die Kinder beim Homeschooling bei der Stange zu halten und adäquat zu unterstützen. Die Furcht, den Anforderungen im eigenen Homeworking nicht nachkommen zu können, wenn die Kids ständig vor den Bildschirm grätschen. Das Unbehagen, im ökonomischen Wettbewerb mit den Männern noch weiter ins Hintertreffen zu geraten.

Die Corona-Krise, so das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin, erschwere die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zusätzlich, insbesondere von Müttern und Alleinerziehenden. Das dürfte europaweit gelten. Dabei war Dänemark das erste Land der EU, das die Pforten der Kitas und Schulen für jüngere Kinder wieder geöffnet hat. Es ist wie andere nordische Staaten in Sachen Digitalisierung weit voraus, Schulen stellen eine Online-Plattform bereit, die Lehrer- und Schülerschaft und die Eltern vernetzt, der Einsatz von digitalen Medien gehört zum Alltag, Bücher und Unterrichtsmaterialien sind gratis im Netz verfügbar.

Dennoch glauben 58 Prozent der dänischen Lehrer, einen oder mehrere Schüler durch den Abbruch des Präsenzunterrichts verloren zu haben. Wie dramatisch mögen diese Verluste erst im bildungsdigital unterentwickelten Deutschland ausfallen? Auch hierzulande wird der Schulalltag eingeschränkt wieder hochgefahren, auch wenn Bildungsexperten damit rechnen, dass bis weit ins nächste Schuljahr hinein kein regelhafter Unterricht stattfinden wird. Was wir unter Corona-Bedingungen nun erleben, ist ein Lehrstück in Sachen Turbodigitalisierung unter hohem Anpassungsdruck. Die Probanden, neben Lehrenden und den Kindern und Jugendlichen auch die Kultusbürokratien, wurden in ein Kältebad getaucht, das schulisch-soziale Beziehungen von einem Tag auf den anderen gekappt hat und erste Erfrierungsödeme hervortreibt.

Narben der Bildungspolitik

Unbarmherzig offenbaren sich in dieser Experimentalphase nun auch die Defizite eines Schulsystems, das immer noch über Auslese funktioniert, als beliebtes föderales Versuchsfeld die Narben politischer Bildungsambitionen zu verkraften und die Digitalisierung um mindestens ein Jahrzehnt verschlafen hat. Zum Vergleich: Dänemark hat 2001 seinen ersten Digitalpakt auf den Weg gebracht. Die Folgen in der derzeitigen Krise sind gravierend. Wenn Lehrer ihre Schüler heute übers Netz erreichen wollen, müssen sie das oft genug von zu Hause aus tun, weil fehlendes W-Lan und mangelnder IT-Support den Betrieb einfach lahmlegen. Über die Hälfte der Lehrer beklagten 2017 im Bertelsmann-Schulmonitoring die technische Ausrüstung an den Schulen, 65 Prozent bemängelten Weiterbildungsangebote. In einer Umfrage vom Branchenverband Bitkom im März 2019 stellen sie ihren Schulen in allen Digitalbereichen ein mäßiges Zeugnis aus, das zwischen „befriedigend“ bis „ausreichend“ changiert. Und selbst wenn Einrichtungen aufgerüstet sind, fühlen sich drei Viertel der Pädagogen alleingelassen, weil niemand zur Verfügung steht, der sie bei technischen Problemen unterstützt.

Als unzureichend beurteilen Lehrer auch die Möglichkeit ihrer Schule, die Schüler mit digitalem Equipment zu versorgen. Das rächt sich momentan besonders, weil keine oder ungenügend Leihgeräte zur Verfügung stehen für Kinder, die zu Hause keinen Zugang zu einem Computer haben. Das Institut der Deutschen Wirtschaft hat festgestellt, dass Kinder in Hartz-IV-Haushalten und in Familien mit Migrationshintergrund in dieser Hinsicht besonders benachteiligt sind. Während die überwiegende Mehrheit aller Zwölfjährigen in einem eigenen Zimmer lernen kann, gilt das für Kinder aus den genannten Gruppen nur zu rund 65 Prozent; weniger als 70 Prozent verfügen über einen eigenen Schreibtisch.

Auch beim Zugang zu einem Computer und damit zu Lernsoftware zeigen sich soziale Diskrepanzen: Nur 15 Prozent der 12- und 27 Prozent der 14-Jährigen, deren Familien über wenig Geld verfügen oder als bildungsfern gelten, besitzen einen eigenen Rechner. Gleichzeitig zeigen sich diese Familien besonders besorgt um den Bildungserfolg ihrer Kinder, fürchten aber, sie nicht genügend unterstützen zu können. Dass hier ein nicht unwesentlicher Teil einer ganzen Schülergeneration verloren zu gehen droht, stößt nicht nur Arbeitgeber auf, sondern auch die Lehrer, denen es obliegt, die vollmundig in Talkshows vorgetragene „Bildungsgerechtigkeit“ zu realisieren. Einer Umfrage der Robert-Bosch-Stiftung zufolge haben sie derzeit zu weniger als der Hälfte aller Grundschüler regelmäßigen Kontakt, 30 Prozent erreichen sie sogar nur selten am Rechner, Smartphone oder Telefon; bei den Gymnasiasten sind es zwölf Prozent. Viele Lehrkräfte geben an, dass der Mangel an digitaler Ausstattung der Schüler dabei ein besonderes Problem ist, ein Fünftel kämpft mit der Erstellung und Vermittlung digitaler Unterrichtsstoffe. Erhebliche Lernrückstände in Grund-, Haupt- und Realschulen und an Gesamtschulen erwartet ein Drittel. „Da werden Schülergruppen abgehängt“, befürchtet der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger. Der Jugendforscher Klaus Hurrelmann rechnet sogar mit zehn Prozent Schülern, „die einfach vom pädagogischen Radar“ verschwinden. Gar nicht berücksichtigt sind dabei die 556.000 Kinder und Jugendlichen in Deutschland, die eine Förder- und inklusive Schule besuchen und für die das Homeschooling aus verschiedensten Gründen keine Alternative ist. Mit dem Präsenzunterricht verlieren sie neben dem auf sie zugeschnittenen Bildungsangebot auch die für sie wichtige Tagesstruktur und Therapieangebote. Von ihnen ist in der Diskussion selten die Rede. Dass sich Lehrer und Lehrerinnen in ihrer Mehrheit nicht um ihre Schüler bemühen würden und sich einen faulen Corona-Lenz machen würden, behauptet kaum jemand. Und auch wenn derlei Selbsteinschätzungen mit Vorsicht zu genießen sind, gibt rund ein Drittel der Lehrer an, durch Corona mehr arbeiten zu müssen, geringer belastet als normal fühlen sich vor allem Grundschullehrer. Aufschlussreich ist allerdings, dass 80 bis 90 Prozent des Digitalunterrichts aus zu bearbeitenden Aufgabenblättern besteht, sekundiert gelegentlich von Erklärvideos.

Bedenkliche Videoangebote

Digitale Konferenzen mit den Schülern sind eher die Ausnahme, was nicht nur auf die mangelnde Geräteausstattung zurückzuführen ist, sondern auch auf Datenschutzprobleme. Denn es gibt keine verbindlichen Richtlinien, welche Kommunikations- und Lernplattformen als unbedenklich gelten, jedes Land schlägt sich einsam durch den digitalen Dschungel, das Kompetenzgerangel zwischen Bildungsverantwortlichen und Datenschutzbeauftragten wirkt nicht unbedingt lernfördernd.

Mancherorts suchen sich besonders engagierte Lehrer in Eigenregie Lernplattformen und riskieren dabei Lizenzverletzungen oder sie nutzen datenschutzrechtlich bedenkliche Videoangebote wie „Zoom“. Die in Bayern an den Start gegangene Online-Plattform „Mebis“ wurde schon am ersten Tag der Schulschließung von Hackern lahmgelegt, die niedersächsische Bildungscloud NBC musste verschoben werden. Hier machen sich die föderalen Rücksichten des Fünf-Milliarden-Digitalpakts – davon wurden bislang nur rund 150 Millionen abgerufen – schmerzlich bemerkbar. So wenig wie er für die Folgekosten der Schulen (etwa IT-Wartung) aufkommt, so wenig dürfen die Mittel für Bildungsinhalte verwendet werden – da ist die landsmannschaftliche Kleingeisterei vor. Doch der Corona-bedingte Digitalisierungsschub an den Schulen dürfte trotz aller Hindernisse beträchtlich sein und von außerschulischen Profiteuren noch angeheizt werden. Die Corona-Ära wird zudem zur Testphase, in der der bisher eher ideologische Streit über die Digitalisierung in der Schule auf eine empirische Grundlage gestellt wird. Sollten Bildungsminister schon davon geträumt haben, den Lehrermangel eines Tages durch digitale Lernmaschinen zu kompensieren, wird nun deutlich, wie grundlegend eine funktionierende Lehrer-Schüler-Beziehung, die motivierende Bestärkung und sanktionierende Hand einschließt, für den Lernerfolg ist. Technische Infrastruktur, Geräte und Support sind notwendig, um den Unterricht auf Grundlage vernünftiger pädagogischer Konzepte zu forcieren, interessanter zu machen und die Schüler für die digitale Gesellschaft vorzubereiten.

So sehen es auch die meisten Pädagogen. Dass dadurch vielleicht die Handschrift der Schüler schlechter wird, kann man schon hinnehmen, bedenkenswerter ist der Befund, dass schreibend memorierte Texte besser behalten werden als nur gescannte. Die Ergebnisse der Unterrichtsforschung, die sich mit der Lernwirkung digitaler Medien befasst, lassen vermuten, dass ihr erfolgreicher Einsatz abhängig ist von Lernumgebung und pädagogischer Begleitung, von den Anforderungen des Faches und nicht zuletzt von der altersgemäßen Fähigkeit und Bereitschaft der Schüler, sich selbst zu steuern und zu kontrollieren. Und weil Schule nicht nur ein intellektueller, sondern auch ein sozialer Lernort ist, sind Nähe und Bindung, das persönliche Gespräch und selbstverständlich auch der Konflikt von zentraler Bedeutung. Die jetzt ins Kinderzimmer verbannten Schüler machen die einzigartige Erfahrung, dass Schule nicht nur „doof“ ist, sondern auch ein faszinierender Ort der Begegnung und Selbstentfaltung. In der konkreten Auseinandersetzung könnten auch Überforderungen deutlich werden, über die Schüler, aber auch Studierende derzeit klagen, weil Lehrer und Dozenten sie im Bemühen, sie nicht „zu verlieren“, mit Arbeit zuballern. In diesem Sinne ist Corona eine herbe Lernzeit auch für diejenigen, die meinen, sie hinter sich zu haben.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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