Selbstverantwortung ist eigentlich eine gute Sache. Das gilt für das Individuum ebenso wie für die verschiedenen Glieder des Sozialkörpers: Was der Einzelne „aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann“, heißt es in der 1931 veröffentlichten Enzyklika „Qudadragesimo Anno“, mit der sich die katholische Kirche dem Zugriff totalitärer Staaten entziehen wollte, „darf ihm nicht entzogen werden und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden.“ Es verstoße außerdem gegen die Gerechtigkeit, wenn sich der Staat in das einmische, was „untergeordnete Gemeinwesen zu einem guten Ende bringen“ könnten.
Dieses Prinzip nennt sich Subsidiarität, also Hilfe oder Reserve, und grundiert den deutschen Sozialstaat und die in ihm verankerte Wohlfahrtspflege. Demnach kann eine Person von höherer Stelle nur dann Hilfe beanspruchen, wenn sie aus eigener Kraft ihr Leben nicht mehr fristen kann und keine Angehörigen bereitstehen, sie zu unterstützen. In Verruf kam das Prinzip, seitdem mit dem im Rahmen von Hartz IV kreierten Begriff der „Bedarfsgemeinschaft“ staatliche Soziallasten auf die primären Netze der Selbstsorge abgewälzt wurden. Die zweite Zahnbürste im Bad oder das Doppelbett sind Hinweise, um nach sozialen Einstehern für Hilfebezieher zu fahnden, die sich vor dem Amt ohnehin schon ausziehen müssen.
In Verantwortung genommen werden bislang auch Kinder, deren betagte Eltern ins Heim kommen oder Eltern von erwachsenen Kindern, die Sozialhilfe oder Eingliederungshilfe beziehen. Wer einmal eine derartige Aufforderung zur Selbstentblößung eines Sozialamts ausgefüllt hat, das einen Teil der „Hilfe zur Pflege“ wieder eintreiben will, weiß, wie tief diese Sonde späht.
Mit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz will Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) nun zwar nicht das gesamte Prinzip kippen, doch die für die Mehrkosten aufkommenden Kommunen argwöhnen durchaus mit Recht, dass damit das Ende der familial-subsidiären Unterstützung eingeläutet ist.
Bis zu einem Einkommen von jährlich 100.000 Euro brutto sollen Angehörige nicht mehr fürchten müssen, für den Heimaufenthalt ihrer Eltern aufkommen zu müssen. Und sie fürchten bisher mit Grund, denn durch verbesserte Pflegeschlüssel und höhere Verdienste steigen die Heimkosten rasant, und die Deckungslücke bleibt bei den Pflegebedürftigen oder ihren Kindern hängen. Deshalb loben die Sozialverbände Heils Entwurf, der auch die Entlastung von Familien mit behinderten Kindern vorsieht. Gleichzeitig insistieren sie auf eine Gesamtreform der Pflegeversicherung, die Abschied nimmt von einem Teilkaskomodell, das alte Menschen mit Betreuungsbedarf in die Armut treibt.
In gewisser Weise schlägt die Diskussion um die Grundrente eine ähnliche Schneise in den subsidiär befestigten Sozialstaat. Denn egal, ob man die Grundrente nun mit den Ostrentnern, die nach der Wende den Osten aufgebaut hätten, begründet oder mit einer generellen Gerechtigkeitslücke – der umstrittene Verzicht auf die Bedürftigkeitsprüfung unterminiert die Subsidiarität als Ordnungsprinzip ebenfalls. Deshalb wehrt sich die Union so vehement dagegen.
Doch Subsidiarität ist ihrer Herkunft nach eine familiale Ethik und übrigens patriarchal verfasst im Hinblick auf die Frauen zugemuteten Sorgeleistungen. Eine zunehmend individualisierte Gesellschaft, die alle Bereiche ihrer Marktlogik unterwirft, entzieht ihr das Fundament. Somit reagiert die SPD auf einen Trend, der unaufhaltbar scheint.
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