Fenster zum Hof

Berliner Abende Eigentlich war ich bislang auf Geräusche abonniert. Der Techno der Nachbar-Kids. Die Katze, die nachts vor meinem Fenster auf Wanderschaft geht und ...

Eigentlich war ich bislang auf Geräusche abonniert. Der Techno der Nachbar-Kids. Die Katze, die nachts vor meinem Fenster auf Wanderschaft geht und klagend schreit. Das Quietschen des Bettes, wenn allmorgendlich der Wecker den Hotelservice nebenan zum Dienst zitiert. Das Schrillen des Telefons aus der Anwaltspraxis unter mir. Gelegentlich ein Auto, das sich in die kleine Nebenstraße verirrt hat und mühsam wendet. Und von weitem das regelmäßige Gekreisch der U 1, wenn sie sich am Gleisdreieck in die Kurve legt. Geräusche ohne Ende, Geräusche ohne Gesichter und Namen.

Seitdem ich umgezogen bin, hat sich das alles verändert. Statt leergefegtem Bewag-Gelände, kahlen Gleisschneisen und endlosem Tunnelbau begleitet mich nun Berliner Alltag, der keine zehn Meter entfernt abrollt. Ich sitze und schaue und schaue. Ich könnte mich in das Buch vertiefen, das ich mit guten Vorsätzen auf die Terrasse genommen habe. Doch nach wenigen Absätzen sinkt es auf meinen Schoß und liegt vergessen.

Hat sich da etwas bewegt? In einem der gegenüberliegenden Fenster zeichnet sich eine Silhouette ab. Massiger Körperbau, hochaufgerichtet. Daneben eine kleine, fragile Figur. Eine Frau, ein Kind, das lässt sich aus der Entfernung nicht ausmachen. Der Mann reicht etwas. Die kleine Person gestikuliert, macht eine abwehrende Bewegung ... Plötzlich verschwindet die Szene, sinkt ins Off. Jemand hat das Licht gelöscht.

Schäm dich! Du hast kein Bein gebrochen, sitzt nicht im Rollstuhl. Und hockst da und glotzt. Fehlt nur noch, dass du dir ein Fernrohr zulegst wie James Stewart. Voyeurin! Schau in dein Buch! Ziellos streift der Blick, fällt auf den Balkon schräg gegenüber. Ach, Casanova ...

Meine Terrasse liegt über einem Hinterhof. Nicht die triste Angelegenheit, die man in Berlin mit diesem Begriff verbindet, sondern ein hübsch angelegtes großzügiges Geviert mit liebevoll gepflegten Bäumchen und Blumen, die sich unter der Hand der Hauswartsfrau räkeln. Darüber aufgereihte Fensterfronten, nach oben sich aufspreizend, dem Licht zustrebend. Die Berliner Zimmer liegen öd und dunkel, nach Süden und Westen hin öffnet sich der Komplex, stellt aus, was er zu bieten hat.

Casanova ist auf seine Veranda getreten, rückt Tisch und Stühle, platziert Selbstgekochtes, eine Flasche Wein und ein Windlicht. Zwei Etagen über ihm thronend, habe ich den besseren Überblick. Heute gibt´s Platzdeckchen und Servietten, ha! Casanova nenne ich ihn insgeheim, weil er mit wechselnden Damen zu speisen pflegt. Ich gönne ihm das. Denn wenn ich nicht glotze, diniere auch ich in wechselnder Besetzung. Vielleicht denken wir ja das Gleiche übereinander (obwohl er die schlechtere Aussicht hat). Seit einiger Zeit jedenfalls grüßt er freundlich hinauf.

Unter Casanova hat sich mittlerweile das ältere Ehepaar eingerichtet, das, blicklos füreinander, tagtäglich die Zeitung mit den großen Lettern studiert. Mit etwas Mühe kann ich von oben die Schlagzeilen entziffern. Auf dem wachstuchgeschützten Tisch stehen zwei Kaffeetassen. Essen sieht man sie nie.

Es lebt sich hier wie in einer Wohngemeinschaft, zumindest im Sommer. Wenn beispielsweise der Sohn meines Nachbarn zu Besuch kommt, weiß ich hinterher alles über fällige Börsennotierungen. Ich kriege mit, wann die Leute unter mir Gäste haben, weil der ansonsten fußlahme Mops dann zu ungeahnter Agilität aufläuft und nur übertroffen wird von dem ewig brüllenden Mädchen aus der ersten Etage, das seinen Frust im Hofsandkasten wegschaufelt. Ich sorge mich mit einem Kleingärtner um Erdbeeren und Tomaten und freue mich diebisch, wenn der junge Mann drei Partien weiter zum Rauchen auf den Balkon komplimentiert wird. An der Ostfront dreht sich ein Hammelbraten am Spieß, ein Stück weiter genießt eine junge Frau den gelüfteten Oberkörper und in der Dachwohnung schätzt man Pro 7. Gelegentlich gibt die Lage auch den Blick frei in bürgerliche Baderäume und Schlafzimmer. Berlin ist eine vergleichsweise zeigefreudige Stadt, die wenig Wert auf musseline Dezenz an den Fenstern legt.

Kürzlich jedoch war ich an meine alte Wohnung erinnert. Da schrie und brüllte es von irgendwoher, man hörte laute Schläge und Türenknallen. Das hob an und ebbte wieder ab und war nicht zu lokalisieren. Ich schaute, das Ehepaar von gegenüber schaute und eine weitere Nachbarin auch. Dann hoben wir ratlos die Schultern. Gesichtslose Geräusche.

Bald wird es kühler werden und das freie Leben verebben. Dann werde ich mich, notdürftig bekleidet und meine Nase im Buch, aufs Sofa fläzen. Und mich gelegentlich bei der Überlegung ertappen, welche Aussicht zum Hof ich gerade biete.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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