Filmische Beruhigungsmittel

Medientagebuch Doku-Soap zum Thema Organtransplantation: Nähe und Authentizität zu einem hohen Preis

Ganz nah am Patienten wollten sie sein, ließen die Macher wissen. Und was Till Lehmann und sein Kameramann Lutz Hofmann mit der Doku-Soap Hoffen zwischen Leben und Tod, die Arte ab kommendem Montag fünf Mal die Woche zur besten Sendezeit ausstrahlt, präsentieren, ist zunächst einmal ein Kunststück der Nähe. Mehreren todkranken Patienten und ihren Familien über Monate hinweg mit der Kamera auf den Fersen zu bleiben, ihrem eingeschränkten Lebensradius in ihren vier Wänden zu folgen, das immerwährende Warten auf den entscheidenden Anruf ins Bild zu setzen und sie dann schließlich in die Klinik zu begleiten, wo sie ihr "neues Leben" empfangen sollen, all die Intimität, die Beklemmung und den Frust einzufangen, ohne die Protagonisten voyeuristisch an die Zuschauer auszuliefern, ist eine extrem schwierige Aufgabe. Schon das Format Doku-Soap könnte dazu verführen, den Tränenkanal zu bedienen.

Manja Joly, 31, zum Beispiel leidet an Mukoviszidose in fortgeschrittenem Stadium und ist an ein Beatmungsgerät gekettet. Sie kann nur mit Anstrengung atmen, das Gehen fällt ihr schwer, die Hausarbeit übernimmt der mittlerweile arbeitslose Ehemann. Eine neue Lunge scheint der einzige Ausweg zu sein. Auch Frank Suffa-Friedel wartet. Nach einem Herzstillstand rettete ihn eine künstliche Herzpumpe, die er überall hinter sich herzieht. Seit 15 Monaten ist er im Krankenhaus. Er wartet auf ein neues Herz. Der zehn Monate alte Nico leidet seit seiner Geburt an einer Gallengangverstopfung. Sein Gesichtchen ist gelb, der Leib aufgedunsen, seine Prognose schlecht. Eine Leberteilspende der Mutter könnte ihn retten.

Das sind drei von mindestens sechs Schicksalen, die die Filmemacher im Verlauf der Serie vorstellen. Sie erzählen die Krankengeschichten, die das Leben der Familien verändern. Sie umreißen die Lebensverhältnisse, nehmen Anteil an der Entwicklung der Ereignisse, ohne dabei selbst ins Bild zu kommen. Krankheit als Schicksal, und die Hoffnung auf ein neues Organ, das wird deutlich, ist ambivalent, denn Hoffnung und Angst halten sich die Waage. "Jeder Tag, an dem das Telefon nicht klingelt, ist ein schöner Tag", sagt Manja Joly, die panische Angst vor dem ersten, selbstständigen Atemzug hat, in der ersten Folge. Auch Frank Suffa-Friedel fürchtet den Tag der Transplantation. "Man will es hinter sich bringen", sagt er. "Niemand kann 100-prozentig sagen, wie es ausgeht."

Dass das Telefon überhaupt klingeln kann, dafür sorgt Frank-Peter Nitschke, Spendenkoordinator der Deutschen Stiftung Organtransplantation in Rostock. Er managt das, was an Organen "auf dem Markt" ist und was mit ihnen geschieht. Mit Nitschke übernimmt die andere Seite des Transplantationsgeschäfts den Fernsehabend. Er dirigiert ein perfekt laufendes logistisches System, das sich getrennt von dem abspielt, was in den Familien und Krankenzimmern zu sehen ist. Denn bis ein Organ seinen Empfänger erreicht, läuft eine Maschinerie ab: Hirntodbestimmung des Spenders, Spendermeldung, die Zustimmung der Angehörigen, die Koordination in der Leidener Zentrale von Eurotransplant, die Beauftragung des Entnahmeteams, die Entnahme, der Weg zum Empfänger. Alles unter Zeitdruck, wie in der industriellen Produktion. Und wie in der Produktion geht es um "Produktoptimierung": Möglichst viele Organe in möglichst gutem Zustand sollen möglichst viele Leben retten. Optimum eines Spenders: Acht Leben. Es gibt auch keine Altersgrenzen mehr, (fast) jedes Organ wird genommen, motiviert Nitschke die Krankenhauschefs zur Spendermeldung.

Davon sieht man im Film: Den Koordinator in seinem Büro, am Computer und im Auto; die Transplant-Teams im Flugzeug; die Styroporbehälter, in denen Herzen, Lungen frisch gehalten werden, lange Klinikgänge und -aufzüge; sterile OP-Säle und -Tische; und immer wieder die mit Perfusionslösung gespülten Herzen und Nieren in Plastiksäcken, ein bisschen an Fleischerei erinnernd.

Man sieht nicht: Den Organspender. Der verschwindet unter weißen OP-Tüchern. Man sieht nicht, dass er sehr rosig aussieht, atmet. Dass er Relaxanzien zur Muskelentspannung gespritzt bekommt, damit er bei der Entnahme nicht zuckt. Man sieht nicht, wie die Anästhesistin am Ende der Entnahme die Beatmung einstellt. Aber man erfährt, dass ein Spender alkoholkrank war und sich bei einem Sturz ein irreversibles Hirntrauma zugezogen hat. Selbst schuld? Seine Leber, wird bedauert, taugt jedenfalls nicht mehr zur Lebensrettung.

Man sieht auch nicht die Angehörigen beziehungsweise nur in einem Fall, zwei Jahre später: Da sagt die junge Mutter, die ihr verunglücktes Kind zur Spende freigab: Ein Trost sei es ihr nicht gewesen, ein anderes Leben zu retten. Es sei unmöglich gewesen, Angehörige vor die Kamera zu bekommen, versichert Till Lehmann glaubhaft. Aber warum? Warum wird im Film von "Toten" gesprochen, auf Station, wo Pflegekräfte den Spender versorgen müssen, aber von "Patienten"? Und warum beruhigen die Filmemacher die Zuschauer, wenn sie erklären (nicht zeigen!), die Spender würden hinterher "ordentlich zugenäht" und erhielten Glasaugen in der Farbe ihrer Iris? Ein filmisches Relaxans?

Das "neue Leben" für Manja Joly (und nach dem Dreh auch Frank Suffa-Friedel) hat einen hohen Preis, den, und das ist das Entscheidende, die Soap nicht zu inszenieren vermag. Nicht nur, weil dies den Zuschauern nicht zumutbar wäre, sondern weil diese objektive, schreckliche Voraussetzung die subjektiven Geschichten in ein anderes Licht rücken würde. Der Filmkitsch - die "sprechenden" Sonnenuntergänge oder die Taufe, zu der sich Joly am Ende entschließt - wäre zu entschuldigen. Aber an der Aufgabe, die "andere" Seite des Transplantationsgeschäfts (übrigens auch die ökonomische, von der überhaupt nicht die Rede ist) den Patientenerzählungen vergleichbar ins Bild zu setzen, scheitert das Team. Denn dann hätte es die Empfänger mit der beunruhigenden Frage konfrontieren müssen, wie sie den Tod eines Anderen wünschen können, um selbst zu leben. Es hätte eine Schuld ins Spiel gebracht, die die Fiktion der Soap - die schönen Heilungsgeschichten - zerstört hätte.

Hoffen zwischen Leben und Tod, Mo, 13.2.-Fr, 17.2.06 immer 20.15-20.40 auf Arte


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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