"Restlose Aufklärung" forderte Bundeskanzlerin Merkel am vergangenen Montag angesichts der ungeheuerlichen Behauptung des ehemaligen RAF-Mitglieds Peter-Jürgen Boock, dass am 7. April 1977 nicht, wie immer angenommen, Christian Klar die tödlichen Schüsse auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback abgegeben habe. Darüber sei der Verfassungsschutz (VS) ebenso informiert gewesen wie über die Tatsache, dass sich Knut Folkerts an diesem Tag angeblich gar nicht in Deutschland aufgehalten hat. Dennoch sei Klar, der als einziger RAF-Gefangener noch im Knast Bruchsal einsitzt und auf seine Begnadigung wartet, 1985 als Todesschütze und Folkerts als Fahrer der legendären Suzuki, von der aus das Attentat verübt worden war, zu lebenslanger Haft (1980, 1995 vorzeitig entlassen) verurteilt worden. Auf den Nachweis des konkreten Schützens verzichtete das Gericht, und die Beschuldigten schwiegen konsequent.
"Restlose Aufklärung" fordern Politiker in der Regel immer dann, wenn ein politischer Skandal das Ansehen eines Amtes oder Organs oder gar die Reputation der Republik zu beschädigen droht. Insofern ist die Forderung der Kanzlerin schon bemerkenswert, denn sie räumt implizit ein, dass es sich in diesem Fall nicht einfach um eine der vielen "Pannen" bei der Verfolgung der RAF handelt, sondern um einen politischen Skandal als Folge von Strukturen, die etwa den Verfassungsschutz gebotener Kontrolle entziehen. War es in den vergangenen 30 Jahren vordringliches Ziel, die RAF zu entpolitisieren und zu kriminalisieren, wechseln nun der Staat und seine Organe selbst auf die politische Anklagebank - ein später, kaum kalkulierter Triumph der RAF-Strategie.
"Restlose Aufklärung" ist im Falle der RAF-Attentate aber auch ein frommer Wunsch, nicht nur im Fall Buback. Denn selbst wenn es stimmen sollte, was Boock zunächst gegenüber Michael Buback, dem Sohn des Opfers, und schließlich gegenüber der Presse zu Protokoll gab, dass nämlich nicht Klar, sondern Stefan Wisniewski der Todesschütze gewesen sein soll und Verena Becker (die mit dem ebenfalls beteiligten Günter Sonnenberg 1977 verhaftet worden war), dies wahrscheinlich schon vor 1985 gegenüber dem Verfassungsschutz ausgesagt hat, gibt es keinerlei Indizien für Wisniewskis Täterschaft. Auch die Annahme, dass sich Folkerts am besagten Tag in Holland aufgehalten haben soll, geht lediglich auf einen - dem VS ebenfalls bekannten - Hinweis von Silke Maier-Witt zurück. Es verträgt sich allerdings nicht mit den RAF-Prinzipien und ist kaum zu erwarten, dass Becker und Maier-Witt ihre Aussagen vor Gericht wiederholen und damit andere RAF-Mitglieder gefährden werden. Zumal Folkerts, der zu Unrecht so hart bestraft worden wäre, zumindest seine Haftzeit in Deutschland (für einen Polizistenmord in Holland ist sie noch anhängig) abgesessen hat. Und Klar, das deutet sich mit der nun gerade gerichtlich verfügten Hafterleichterung an, womöglich nun doch auf seine baldige Begnadigung hoffen darf. Juristisch wäre sein Fall ohnehin abgeschlossen, und nur die Angehörigen Bubacks mag es beruhigen, dass nicht er der Schütze war.
Dass der Verfassungsschutz sein Wissen nicht an die Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet und zur Aufklärung beigetragen hat, begründet er regelmäßig mit dem sakrosankten "Informantenschutz", der es ihm jahrzehntelang erlaubt hat, Spitzel aus der Szene anzuwerben und verdeckt zu operieren. Dass ausgerechnet der VS mit dem so genannten "Aussteiger-Programm" der neunziger Jahre beauftragt war - was unter Umständen auch hieß, potenzielle RAF-Mitglieder zeitweise vor der Strafverfolgung zu schützen, aber auch, diese zu zwingen, mit dem Staatsschutz gemeinsame Sache zu machen -, stieß schon damals auf Kritik. Nicht nur die RAF und der sie verfolgende Staat waren jahrzehntelang reflexhaft und geradezu existenziell zusammengespannt, sondern auch der Verfassungsschutz und einzelne Mitglieder der Gruppe: Im so genannten "RAF-Komplex" gab es nicht nur terroristische Mitspieler. Jetzt, wo sich diese klandestine "Einheitsfront" endgültig erledigt hat, droht beiden Seiten der Gesichtsverlust.
Die Ermittlungsblamagen im Zusammenhang mit der RAF sind kein neues Phänomen - erinnert sei nur an die Fahndungsplakate der späten achtziger Jahre, die "Top-Terroristen" ausriefen, von denen sich später einige als relativ harmlose Sympathisanten erwiesen -, und sie würden weniger Aufmerksamkeit erregen, träfen sie nicht auf eine so symbolisch aufgeladene Zeit. Das Jahr 2007 hätte den Frieden mit der RAF-Geschichte einläuten können, indem die letzten Gefangenen vorzeitig entlassen oder begnadigt worden wären und die publizistische Windmaschine den Staub der Archive sorgsam über noch offene Wunden verteilt hätte.
Nun, heißt es, sei das "Schweigekartell", das die RAF-Mitglieder selbst ihrer Elterngeneration vorgeworfen hatten, gebrochen und der einst so monolithische Block namens RAF zerfalle in identifizierbare Figuren, Motive, Geschichten - Individuen mit Schwächen und Eitelkeiten, die, wie möglicherweise im Falle Boock, das Scheinwerferlicht suchen. Sie haben, soweit sie der RAF früh angehört und lange im Gefängnis saßen, nur diese eine Geschichte, die sie zu Markte tragen können in einer Gesellschaft, die nur nach Marktwert fragt. Es wird in der nächsten Zeit wohl nicht die einzige "Enthüllung" aus dem Umfeld der RAF bleiben.
Ob die nun anstehenden historischen Plauderrunden und "restlosen Aufklärungen" in Form von Wiederaufnahmeverfahren viel zum Verständnis der Zeit beitragen, in der die RAF meinte, sich als politische Vorhut in einen selbst erklärten Krieg werfen zu müssen, darf bezweifelt werden. Aufklärungsstunden à la Guido Knopp, die Überschwemmung mit "Zeitzeugen" und Bildarchivalien waren schon im NS-Fall nicht besonders tauglich. Der im Gespräch mit Günter Gaus stotternde und staksende Klar jedenfalls sagt mehr über sich und die Zeit, aus der er kommt, als der salbadernde Boock. So wie ja auch der sich windende Günther Oettinger offenbart hat, dass die Toten die Geschichte nicht mit ins Grab nehmen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.