Flutende Tugend

Kommentar Am Deich wird Gemeinschaft erprobt

Im Unterschied zum 11. September, dem Ereignis mit einem sauber datierbaren "Davor" und "Danach", gibt es bei der großen Flut, die derzeit quer durch Deutschland rollt, keinen genauen Beginn und noch weniger ein sicher bestimmbares Ende. Während der Osten Bayerns sich bereits durch die Trümmer arbeitet, werden in Dresden langsam die Schäden beziffert; elbabwärts dagegen starren die Gemeinden auf die noch zu erwartenden Wassermassen. Längst hat sich eine apokalyptische Überwältigungssemantik eingeschrieben: Von Sintflut ist die Rede, von Untergang und großer Flucht.
Was für die einen wörtliche Bedrohung ist, hat für die anderen metaphorische Bedeutung: Der Kanzler, dem bis gestern das Wasser noch bis zum Hals stand, geriert sich nun als von der Flut aufgetriebener, schwimmtüchtiger, sprich vitaler, handlungsfähiger Politiker. Sein Herausforderer Edmund Stoiber wirkt neben ihm ältlich, aufgeschreckt, desorientiert. In Gummistiefeln und Anorak macht Schröder auf dem Deichkamm eine bessere Figur als der CDU-Kandidat im wenig zweckdienlichen Anzug.
Doch die Flut hat nicht nur talkshow-fremde politische Profile hochgespült, sondern auch eine in einer auf Ellenbogengebrauch ausgerichteten Gesellschaft unübliche Solidarität. Unablässig rühmen Betroffene die Hilfsbereitschaft von Nachbarn, Freunden oder völlig Fremden; die Einsatzkräfte leisten Kärrnerarbeit, und wer nicht direkt helfen kann, ist zumindest spendebereit.
Not macht nicht nur erfinderisch, sondern auch "gut"; wer am Deich hilft, erwartet keine Gegenleistung, wer spendet, keinen Steuerablass. Die offenbar werdenden kommunitaristischen Tugenden gemeinschaftlicher Kooperation und Fürsorge könnten ins Schwärmen bringen, wüsste man nicht, dass sie eben nur zeitlich und lokal begrenzt realisierbar sind. Kluge Vertreter dieser Orientierung wie Alasdair MacIntyre weisen deshalb darauf hin, dass es verfehlt wäre, die Politik des Staates mit Werten lokaler Gemeinschaften anreichern zu wollen. In diesem Sinne ist etwa die Aussetzung der Steuerreform, die Kanzler Schröder als erstes und sicher nicht letztes "Notopfer" abfordert, auch nicht "gerecht", weil sie unterschiedlich große Lasten aufbürdet.
In Dresden, Dessau, Mühlberg oder Wittenberge geht es nicht nur um die Verteidigung des persönlichen Hab und Guts, sondern auch um die Bewahrung der "eigenen" Stadt und Kultur. Dass übermorgen dort überall wieder das egoistische Interesse greifen und sich soziale Ungleichheit durchsetzen wird, und dass sich manche besser aus dem großen Topf zu versorgen verstehen werden als andere, ist anzunehmen; doch die Erfahrung, dass für einen langen, "fließenden" Augenblick solidarisches Handeln erfolgreich erprobt wurde, wird im kollektiven Gedächtnis bleiben, wenn die Städte längst wieder trocken sind und sich die Politiker ins Trockene gebracht haben. Dann könnte die "große Flut" auch zu einer positiven politischen Metapher werden.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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