Im Rahmen geselliger Anlässe kommen wir im Freundeskreis früher oder später auf zwei Themen: die pflegebedürftigen Eltern und die Mühen für uns meist noch Erwerbstätige, das zu schaffen. Alternativ geht es um die in nicht allzu ferner Zeit anstehende Rente.
Ein Teil von uns wäre unter den früher geltenden Regeln längst fällig. Meine ältere Schwester etwa, Jahrgang 1944, konnte als Frau noch mit 60 aus dem Arbeitsleben scheiden; für meine jüngere, Jahrgang 1964, wird es, obwohl sie die notwendigen 45 Beitragsjahre fast zusammenhat, statt der „Rente mit 63“ höchstens eine abschlagsfreie Rente mit 65 geben. Im Normalfall müssen die 1964er erstmals bis 67 arbeiten.
Im Dezember meldete die Deutsche Rentenv
Deutsche Rentenversicherung, dass 2021 rund ein Drittel aller Neurentner die abschlagsfreie Frührente bezogen, zwei Drittel haben ihr vorgeschriebenes Renteneintrittsalter nicht erreicht. Die Union fordert ein höheres Renteneintrittsalter, und Kanzler Olaf Scholz (SPD) will den Anteil derjenigen steigern, die bis zum regulären Renteneintritt malochen. Denn vor allem gut verdienende Facharbeiter nehmen das Angebot, entweder mit 35 Beitragsjahren und Abschlägen oder abschlagsfrei nach 45 Versicherungsjahren aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, in Anspruch – ein Quiet Quitting zu Lasten des Arbeitsmarktes und der Rentenkasse.Das Thema ist also nicht nur politisch brisant, sondern auch im persönlichen Umfeld etwas vermint. Da spielt der Generationenunterschied eine Rolle, Arbeitsmentalitäten und nicht zuletzt der Verlauf der Arbeitsbiografie. Ein Freund beispielsweise regt sich ständig darüber auf, dass es für viele Menschen in seinem Umfeld kein anderes Problem gibt, als endlich in Rente gehen zu können. Er ist 73, geht voll in seinem Job auf und hat eben seine Stundenzahl von 40 auf sagenhafte 39 verringert. Allerdings ist er auch erst mit 50 richtig durchgestartet, da ist noch Power drin. Einem anderen kann es dagegen nicht schnell genug gehen, er sehnt sich danach, aus seiner durchaus gut bezahlten Arbeitsmühle herauszukommen, und sucht andere Sinnstiftungen, als IT-Prozesse zu managen. Eine Freundin wiederum ist aus ihrem selbstständigen Historikerinnenbüro ausgestiegen, weil sie es müde war, sich mit Auftraggebern herumzuärgern.Es gibt also viele Gründe, weshalb sich gerade die Babyboomer-Generation früher aus dem Arbeitsleben schleicht, obwohl sie – im Unterschied zur heutigen Generation Z – noch auf eine Weise sozialisiert ist, die Erwerbstätigkeit in den Lebensmittelpunkt stellte. Allerdings hatten die in den 1970er Jahren Aufgewachsenen, nun der Rente Entgegengehenden auch ganz andere Ansprüche an kreative Selbstentfaltung und Sinnerfüllung – doch nur die wenigsten haben es geschafft, diese im Arbeitsleben zu verwirklichen. Ist es da ein Wunder, dass sie nun hoffen, dies zumindest in den ihnen verbleibenden Jahren zu realisieren und nicht erfüllte Lebensträume einzulösen?Kultur des FrühausstiegsDie Erwerbsteilhabe älterer Menschen ist von vielen Umständen abhängig. Die Zufriedenheit mit dem Arbeitsplatz und das private Umfeld spielen eine Rolle, die Gesundheit und nicht zuletzt die finanziellen Möglichkeiten der Betroffenen. Das kommt in der seit 2011 fortlaufend durchgeführten Studie zum Thema „leben in der Arbeit“ der Universität Wuppertal zum Ausdruck. Angehörige der Babyboomer-Generation werden regelmäßig danach befragt, wie lange sie zu arbeiten beabsichtigen. Es herrsche eine „Kultur des Frühausstiegs“, erklärte Studienleiter Martin Hasselhorn bei Deutschlandfunk Kultur. Die Leute wollten ihr Leben selbst bestimmen, es genießen, so lange es geht, und empfänden es als ihr moralisches Recht, früher in Rente zu gehen. Um sie länger zu halten, müssten Unternehmen attraktive Arbeitsplätze und Mitsprache bei der Arbeit anbieten.Finanzielle Gesichtspunkte spielen bei der Rente mit 63 keine unwesentliche Rolle, denn man muss sie sich leisten können. Außer der letzten Bastion der gut ausgebildeten, meist männlichen Facharbeiter dürfte es nur wenige Berufsgruppen geben, die 45 Beitragsjahre sammeln können. Diskontinuierlich verlaufende Berufskarrieren, Arbeitslosigkeit, ein für die betreffenden Jahrgänge bei der Rente nicht mehr angerechnetes Hochschulstudium, Auslandsaufenthalte: Es gibt mannigfache Faktoren für den Verlust von „Rentenpunkten“. Wer, wie ich, während des Studiums an der Uni in einer so genannten Hiwi-Funktion beschäftigt war, hatte damals gar keine Möglichkeit, in die Rentenkasse einzuzahlen. Verlorene Jahre für die Altersvorsorge.Viele, die mit 63 aus dem Berufsleben aussteigen, tun das – gerade im Gesundheitsbereich oder anderen kräftezehrenden Berufen – nicht immer freiwillig. Wer mit 63 aufhört und seine 45 Versicherungsjahre nicht zusammenhat, bezahlt dies mit einem Abschlag von monatlich 0,3 Prozent; zwei Jahre Zeitfreiheit schlügen also mit 7,2 Prozent zu Buche. Unter bestimmten Umständen kann sich das auch lohnen: Die Stiftung Warentest errechnete kürzlich, dass eine um zwei Jahre vorgezogene Rente einer Facharbeiterin bei durchschnittlicher Lebenserwartung 41.000 Euro einbrächte. Sie müsste 114 Jahre alt werden, um das mit der regulären Altersrente zu erreichen. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft fordert deshalb, die Abschläge zu erhöhen. Das wiederum wundert niemanden.