Was Hänschen nicht lernt, weiß der Volksmund, lernt Hans nimmermehr. Deshalb besuchen die "Waldameisen" aus der Kita Storchennest im brandenburgischen Cottbus dreimal wöchentlich bei Wind und Wetter ihr Waldameisendorf mit Hütten und Spielgerät - weit weg von der Glotze und vom Auto. In Kreuzberg-Friedrichshain, dem Berliner Bezirk mit dem problematischsten Sozialprofil, durchforsten "Kiezdetektive" zwischen sechs und 14 Jahren ihre Umgebung nach Mängeln, aber auch nach Schätzen: Der Hundekot auf dem Spielplatz und offen hausierende Drogenhändler werden negativ verbucht, der immer freundliche Obsthändler und ein gut in Schuss gehaltener Park erhalten Pluspunkte. Das Zusammengetragene wird im Unterricht erörtert, und eine Kinderversammlung präsentiert die "rote" und "grüne" Liste ihren Kiezpolitikern: Abhilfe schaffen oder weiter so.
"Waldameisen" und "Kiezdetektive" sind zwei von bislang 33 von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ausgelobte Beispiele "guter Praxis" der Gesundheitsförderung von sozial Benachteiligten. Solche Projekte, die im Rahmen eines Kooperationsverbundes gefördert werden, gibt es nicht nur im deutschen Osten, sondern republikweit, und sie beziehen nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene mit ein. Das an Kindern Versäumte allerdings, so die Erfahrung, ist viel schwerer aufzuholen, denn Kinder gewöhnen sich im Alter zwischen acht und 14 Jahren ihr künftiges Gesundheitsverhalten an. Deshalb sind in erster Linie sie die Adressaten von Präventionsstrategien, die auf dem diesjährigen, mittlerweile das zwölfte Mal stattfindenden Berliner Kongress "Armut und Gesundheit" im Mittelpunkt standen.
Was einmal als studentische Initiative und Plattform von alternativen Gesundheitsprojekten begann, hat sich mit 1.800 Teilnehmenden mittlerweile zum größten deutschen Gesundheitskongress gemausert. Und wenn im ehrwürdigen Rathaus Schöneberg auch die Mitarbeiterin des Frauengesundheitszentrums und ihre Kollegin von der Drogenhilfe gemeinsam über Stellenmalaise und prekäre Arbeitsbedingungen stöhnten, ist doch spürbar, dass Prävention von den Verantwortlichen ernster genommen wird als früher. Nicht zuletzt, weil der Gesundheitszustand der nachwachsenden Generation - und damit der zukünftigen Beitragszahler - alarmierend ist: In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Fitness der Kinder und Jugendlichen um zehn Prozent verschlechtert, seit 2000, so eine AOK-Studie mit 60.000 Testpersonen, geht sie kontinuierlich zurück.
Dabei ist Gesundheit von mehreren Faktoren abhängig. Der Bildungsgrad in Verbindung mit dem Einkommen spielen eine wesentliche Rolle, aber auch die Handlungsspielräume der Menschen. Wer zum Beispiel eine relativ gute Ausbildung hat, irgendwann ins "Prekariat" abrutscht und langfristig erwerbslos ist, hat möglicherweise die Einsicht, aber nicht mehr die finanziellen oder mentalen Voraussetzungen, sich gesund zu verhalten. Ein weiterer wichtiger Faktor, besonders bei Kindern, ist auch das "soziale Kapital", jene Vertrauensressourcen also, die es erlauben, sich trotz fehlender Mittel und belastender Situationen wohl zu fühlen.
Eine WHO-Studie, die der Frankfurter Gesundheitswissenschaftler Andreas Klocke vorstellte, beweist, dass beispielsweise die Zahngesundheit von Kindern eindeutig mit der Schicht, aus der sie stammen, korrespondiert. Auch regionale Studien bestätigen den Befund, dass sich Kinder aus einem sozial benachteiligten Milieu seltener die Zähne putzen, sich weniger bewegen und schlechter ernährt werden. Allerdings ist gesundheitsförderliches Verhalten nicht in jedem Fall schichtspezifisch: Kinder und Jugendliche aus Mittelschichtsfamilien etwa rauchen häufiger und konsumieren öfter Alkohol als die Sprösslinge aus den "unteren" oder "oberen" Schichten.
Dabei scheinen Kinder und Jugendliche um so gesünder zu sein, je besser sie sozial integriert sind, in einem Vertrauen fördernden schulischen und häuslichen Umfeld leben und Ansprechpartner haben, mit denen sie Probleme besprechen können. Auf dieses Phänomen machte auch Dorothea Grieger, die im Stab der Integrationsbeauftragten Maria Böhmer (CDU) arbeitet, aufmerksam. Zwar seien Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund besonders benachteiligt, aber nicht unbedingt kränker als Kinder aus deutschen Familien; Allergien etwa treten bei ihnen viel seltener auf als beim Nachwuchs aus der deutschen Oberschicht. Deshalb begrüßt Grieger, dass in den jüngst verabschiedeten Empfehlungen des Europarats der Lebenslagen-Ansatz und die besonderen sozialen Ressourcen von Migrantinnen und Migranten ausdrücklich berücksichtigt werden.
Wie schon im vergangenen Jahr war die Tagung auch dieses Mal wieder Aufmarschgebiet der Kritiker der Gesundheitsreform. Während 2005 diese Position noch Karl Lauterbach (SPD) besetzt hielt, ließ dieser sich - trotz Ankündigung - in diesem Jahr überhaupt nicht blicken, und überließ das Feld den Kassenvorständen und Aufsichtsräten der großen Krankenkassen. Unterstützt wurden sie von der bissigen Polemik Rolf Rosenbrocks, der als Gesundheitsexperte im Sachverständigenrat die "Reform" in ihre Einzelheiten zerpflückte. Weder, so Rosenbrock, gebe das Vorhaben den Kassen Anreize, sich um die chronisch Kranken und sozial Benachteiligten zu kümmern, noch schaffe es eine nachhaltige Finanzierungsgrundlage. Dagegen popularisierten die Gesundheitspolitiker ein "Selbstverschuldungsprinzip auf Stammtischniveau", das alle Erkenntnisse der Gesundheitswissenschaft in den Wind schlage. Und die Kinder, um die es vordringlich gehen sollte, werden mit der Verschiebung des Präventionsgesetzes bis mindestens 2008 wieder einmal auf die lange Bank geschoben.
Einig wissen sich die Kritiker mit der Bevölkerung: Deren Politikzufriedenheit sank laut Umfrage innerhalb eines Jahres von 60 auf 49 Prozent, 88 Prozent sprechen sich für einen Stopp der jetzigen Reformen und einen anderen Ansatz aus, und 66 Prozent zweifeln am notwendigen Sachverstand der Gesundheitspolitiker. Im Moment haben sie sogar einen Großteil der Ärzte hinter sich, die diese Woche gegen die geplante Reform auf die Straße gingen.
Insofern war das Abschlussplenum für Ulla Schmidts Staatssekretär Klaus Theo Schröder nicht gerade ein Heimspiel. Dass er schon den Erhalt der Gesetzlichen Krankenversicherung als Erfolg der Reform verkaufen müsse, so Rolf Stuppardt vom IKK-Bundesverband, werfe ein bezeichnendes Licht auf den Koalitionskompromiss. Und einer der "Publikumsanwälte", Gerhard Trabert, reklamierte, dass sich die dramatische Situation von nicht Versicherten auch nach der Reform kaum verbessere.
Sind es, wie Trabert vermutet, also gerade die Strukturen, die die Ausbildung von "sozialem Kapital" verhindern? Zum Beispiel, indem das duale Prinzip von privater und gesetzlicher Krankenversicherung unangetastet bleibt und die Zweiklassenmedizin verfestigt wird? Oder indem die Kosten-Nutzen-Rechnung Einzug in die Arztpraxis hält? Welcher Patient soll künftig noch einem Arzt vertrauen, wenn er befürchten muss, dieser setze Rationierungsmaßnahmen gegen ihn durch?
Wenn in der Republik, wie kürzlich auf der Jahrestagung des Ethikrates, selbstverständlich über Rationierung von Gesundheitsleistungen verhandelt werden kann und Wissenschaftler gleichzeitig darauf pochen, dass Gesundheitsmaßnahmen "nachhaltige gesellschaftliche Investitionen" sind, dann tritt die ganze Schizophrenie der aktuellen Debatte zutage. "Wir können nicht die ursächlichen Lebensumstände ändern", war am vergangenen Wochenende zu hören, "aber dafür sorgen, dass negative Lebensumstände nicht so negativ ankommen." Als die Konferenz "Gesundheit und Armut" vor zwölf Jahren aus der Taufe gehoben wurde, war der Anspruch noch höher. Heutzutage sind es nur noch Organisationen wie Medico, die sich bemühen, Modelle einer alternativen Gesundheitspolitik zu entwickeln. Ansonsten bleibt Gesundheit eben doch nur eine, wie Rosenbrock vermerkte, "Reparaturbaustelle".
Weitere Infos über Projekte "guter Praxis" unter
www.gesundheitliche-chancengleichheit.de
Arbeitskreis Migration und öffentliche Gesundheit unter
www.integrationsbeauftragte.de
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