Die Politik muss sich endlich mal hinstellen und sagen, Freunde, ihr sollt nicht bis 67 arbeiten, nee, wir geben euch erst Geld mit 67, so ist die richtige Redewendung.“ Dieses freimütige Statement stammt von einem Rentner und findet sich in einer eben erschienenen Studie (Leben im Ruhestand, transit 2014), die untersucht, wie die sogenannten jungen Alten mit der Herausforderung umgehen, als „Alterskraftunternehmer“ eine unter allen Umständen „aktive“ und „bewegte“ Lebensphase zu organisieren. Denn gleichgültig, ob Arbeitnehmer zukünftig erst mit 67 in Rente gehen oder, wenn sie 45 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt haben, mit 63 oder mit den derzeit normalen 65 Jahren: Die Lebensphase nach der Erwerbstätigkeit soll, anders als früher, kein Ruhestand mehr sein, sondern eine Periode, in der sich der Mensch auch weiterhin als funktionsfähiges Subjekt zu bewähren hat.
Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass in der Rentendebatte zwei verschiedene, gegenläufig erscheinende Probleme verhandelt werden. Zum einen geht es um das von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) auf den Weg gebrachte Rentenpaket, das unter anderem die Rente mit 63 und die Mütterrente beinhaltet; und zum anderen um den von verschiedenen Seiten unternommenen Vorstoß, das Renteneintrittsalter grundsätzlich zu flexibilisieren und es weitgehend den Arbeitnehmern zu überlassen, wann Schluss ist mit der Maloche.
Das Nahles-Projekt, ein Geschenk der SPD an ihre enttäuschte Wählerklientel, ist, wie sich kürzlich auf der Expertenanhörung noch einmal erwies, aus vielerlei Gründen umstritten. Verfassungsrechtlich setzt es das bisher gültige Prinzip außer Kraft, nach dem sich die Höhe der Rente aus den eingezahlten Beiträgen ergibt. Aus dieser Sicht ist schon die aus der Rentenkasse finanzierte Mütterrente ein Problem. Aber mehr noch können sich Arbeitnehmer benachteiligt fühlen, die nach 63 Jahren aufgrund hoher Beitragszahlungen höhere Rentenanwartschaften angespart haben als ein Durchschnittsrentner. Haben sie die 45 Versicherungsjahre aber nicht erfüllt, dürfen sie nur mit Abschlägen früher in Rente gehen. Das könnte, warnen Experten, dazu führen, dass gerade bei besser Verdienenden das ganze System in Misskredit gerät.
Für viele Frauen ungerecht
Aus Gerechtigkeitsgründen bedenklich ist die Rente mit 67, weil sie vor allem diejenigen begünstigt, die in den nächsten Jahren in Rente gehen und aufgrund ihrer Erwerbsbiografie in den Kreis der Leistungsberechtigten gehören. Das sind in der Regel kontinuierlich erwerbstätige Männer mit Durchschnittseinkommen, die selten und nur kurz arbeitslos waren, denn Arbeitslosenhilfe- und Hartz IV-Phasen werden so wenig wie Ausbildungszeiten berücksichtigt. Derzeit erfüllt jeder zweite Mann, aber nur jede siebte Frau diese Voraussetzung. „Die abschlagfreie Rente kommt vor allem dem Facharbeiteradel zugute, der zusätzlich noch Betriebsrenten erhält“, fasst der grüne Rentenexperte Markus Kurth zusammen und steht mit dieser Kritik bei weitem nicht alleine.
Nun ließe sich einwenden, dass zumindest Frauen mit Kindern von der Mütterrente profitieren. Aber erstens ist das kein vollwertiger Ersatz, weil überhaupt nur ein einziges vor 1992 geborenes Kind angerechnet wird, während später geborener Nachwuchs mit bis zu drei Rentenpunkten honoriert wird. Und zweitens sind Frauen, die nach der Geburt wieder einen Teilzeitjob aufgenommen haben – von den Frauen in der DDR, die zur Erwerbsarbeit genötigt wurden, einmal ganz abgesehen –, aufgrund geringerer Verdienste ohnehin benachteiligt und werden nun auch noch dafür bestraft, dass sie „nebenher“ Kinder aufgezogen haben. Die Mainzer Ökonomin Isabel Schnabel, künftig eine der fünf Sachverständigen im Rat der Wirtschaftsweisen, hält deshalb weder die Rente mit 63 noch die Mütterrente für gerecht.
Verlierer bei der Rente mit 63 sind auch jüngere Erwerbstätige, die mit immer weiter steigenden Beiträgen zwar dafür aufkommen müssen, aber nicht mehr voll in den Genuss der Vorteile kommen, weil sie später in Altersrente gehen und ihr Rentenniveau sinken wird. Wesentliche Teile des Rentenpakets, so die Deutsche Rentenversicherung, seien deshalb „nicht sachgerecht“ und schränkten die künftigen Handlungsspielräume ein.
Andere Handlungsspielräume messen diejenigen aus, die sich für eine „Flexi-Rente“ stark machen. Die moderate Aufweichung der Altersgrenzen findet nicht nur unter Unionspolitikern, unterstützt von der Wirtschaft, Anhänger – auch Andrea Nahles zeigt sich offen für diesen Vorstoß. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner bringt seine Partei mit dem Vorschlag ins Gespräch, den Renteneintritt ab 60 zu ermöglichen, unter der Voraussetzung, dass das Alterseinkommen aus gesetzlicher, betrieblicher und privater Vorsorge über dem Grundsicherungsniveau liegt. Die Hinzuverdienst-Grenzen bei der Frühverrentung sollen ganz abgeschafft werden.
Das Ziel ist klar: Das Projekt darf den Steuerzahler nichts kosten und die Zuverdienstrentner sind ein lukratives Angebot an die Unternehmen, denn für sie müssen keine Sozialabgaben gezahlt werden. Doch gerade Wirtschaft und Handwerk laufen derzeit Sturm gegen die Rente mit 63, weil sie eine dramatische Frühverrentungswelle und um ihre dringend benötigten Facharbeiter fürchten. Hat Christian Lindner da etwas missverstanden?
Die gegenwärtige Rentendebatte lässt sich auch als Ausdruck einer Verflüssigung der Lebensphasen verstehen. Die bislang abgezirkelten Erwerbs- und Nichterwerbsperioden (inklusive ausschließlich weiblicher Kinderpausen) passen nicht mehr in eine Gesellschaft, die das vorhandene Humankapital möglichst flexibel – und zwar nicht nur im 24-Stunden-Rhythmus oder in der Sieben-Tage-Woche, sondern über das gesamte Leben der Erwerbsfähigen hinweg – einzusetzen bemüht ist. Die Rente mit 63 und die Flexi-Rente sind deshalb kein Gegensatz, sondern sozialpolitische Reaktionen auf verschiedene Lebenslagen, unter der Ägide der gesellschaftlichen Ressourcenausschöpfung. Ob Arbeitnehmer darin ein Angebot sehen oder eher eine Zumutung, ist eine ganz andere Frage. Es wird Arbeitnehmer geben, die mit Freuden länger arbeiten werden und solche, die mit oder ohne Abschläge in Rente gehen müssen und vielleicht auf einen Zuverdienst angewiesen sind: Das wird von der Schicht abhängen und von den verfügbaren Ressourcen.
Bruch mit ehernen Prinzipien
Das Problem in der Diskussion bleibt der Maßstab der Erwerbsarbeit. Sie bestimmt die Alterssicherung – und übrigens auch die Form, wie das „junge Alter“ individuell gelebt wird. Beschäftigt zu sein oder zumindest so zu wirken, das zeigt die oben genannte Untersuchung, ist nämlich zum Indikator des sogenannten Unruhestands geworden. Insofern hat die Mütterrente, gleichgültig wie man sie bewertet und aus welchen Mitteln sie bezahlt wird, auch ein ehernes Gesetz infrage gestellt. Sie honoriert Arbeit, die nicht entlohnt und für die kein Beitrag entrichtet wurde.
In welchem Umfang die Rente mit 63 in Anspruch genommen werden wird, ist noch ungewiss, kalkuliert wird mit maximal 200.000 Berechtigten pro Jahr. Das wird auch davon abhängen, ob sich die Koalition bei der Berücksichtigung der Arbeitslosenzeiten auf einen Stichtag einigt. Und ob sich die CSU mit ihrer Forderung, auch freiwillige Beitragszahlungen anzurechnen, durchsetzen kann. Im Moment kracht es beim Thema Rente noch heftig in der Koalition. Das ist vor allem fatal für die Union, denn bis zum 1. Juli, das war eines ihrer Wahlversprechen, soll die Mütterrente in Kraft gesetzt werden. Das dürfte knapp werden.
Über eine Verschiebung würde sich sicher die Deutsche Rentenversicherung freuen. Denn die steht nicht nur unter zeitlichem Umsetzungsdruck, sondern auch vor dem Problem, dass ihnen die notwendigen Daten und Unterlagen fehlen, um die Rente mit 63 bewilligen zu können. So oder so: Diese Debatte wird fortgesetzt werden. Am Ende vor den Gerichten.
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