Für immer zu jung

Ausrangiert Mit Trittin, Künast und Roth tritt eine politische Generation unter 60 ab. Nicht erledigt sind dagegen viele ihrer Fragen
Ausgabe 41/2013

„Das ist ja meine Generation, die da jetzt rankommt!“ Ein ganzer Strauß von Gefühlen mischte sich in diesen Ausruf des Freundes, als Gerhard Schröder zum Bundeskanzler gewählt wurde. Das war 1998. Während Schröders Generationsgenossen ohne Rücksicht aufs Berechtigungswesen in den siebziger Jahren die Reformuniversitäten geentert und Ministerien unterminiert hatten, schlug der einst ungeduldig am Zaun Rüttelnde 20 Jahre später eine Schneise direkt ins Zentrum der Macht und schreckte damit so manchen 68er auf. War man tatsächlich einmal losgezogen, um im Kanzleramt anzukommen? Hatte sich die Gesellschaft so sehr verändert, dass sie einen aus den eigenen Reihen ganz oben erträgt?

Die Ära Schröder war, gemessen an der seines Vorgängers, sternschnuppenkurz. Als sozialdemokratisch bemäntelter, neoliberaler Modernisierer hat Schröder seinen Part erfüllt, ebenso wie Willy Brandt einst für einen Augenblick den überfälligen frischen Wind durchs bundesdeutsche Haus blasen ließ. Es braucht immer unverdächtige Erneuerer, die eine Gesellschaft auf Spur bringen.

15 Jahre nach der offiziellen Inthronisierung der 68er-Generation, die den Turnschuh schnell gegen den Bundeswehrstiefel tauschte, reibt man sich nun verwundert die Augen über die Schwundstufen des Politischen. Die Halbwertzeit der Lotsen, die von Bord gehen, wird immer kürzer. Die grünen Leader, die kürzlich abgedankt wurden – von Jürgen Trittin über Claudia Roth und Renate Künast bis Volker Beck –, sind allesamt unter 60. Zu jung für die 68er-Revolte und noch nicht mal Rentner.Aus der Perspektive eines im Amt alt gewordenen Adenauers oder Kohls müssen sie geradezu als Greenhorns erscheinen.

Wir Berufsjugendlichen

Und doch sind es die Nachläufer der letzten „politischen“ Generation, die nun gehen. Meiner Generation, der ewig verspäteten. Die sich, weil sie im Windschatten der 68er stand und nie wirklich dazugehörte, in der Berufsjugendlichkeit eingerichtet hat und in einem nie zu Ende kommenden politischen Projekt. Doppelt bitter, plötzlich zum alten Eisen zu gehören.

Als unsereins anfing, war eigentlich schon alles vorbei. Die Sit-ins auf den Marktplätzen und auf den Domplatten hatten sich verlaufen, die Blumenkinder ihre Hare-Krishna-Klamotten gegen Bundfaltenhosen und schulterbetonte Jacken getauscht, Ausrüstung in den Stollen unter den Institutionen. Die Generallinien waren alle schon verkündet und wieder verklungen und überlebten höchstens noch eine Weile in der verbunkerten ML-Linken. Zurück blieben weitflächige Brachen, Häuser, Bauplätze und Friedenswiesen, die mit viel Bewegungsenergie besetzt werden konnten. Das, immerhin, war ein existenzieller Akt. Hinsichtlich der Deutungshoheit blieb man im Nachteil, weil es die Älteren immer noch besser zu wissen glaubten; den Körper an den überall hochgezogenen Nato-Maschendrahtzäunen als Pfand einzusetzen, blieb dagegen meist uns Jüngeren vorbehalten. Vielleicht ist das der entscheidende Unterschied zu den später Geborenen, die sich schon als widerständig empfinden, wenn sie eine Online-Petition unterschreiben.

Die „neuen sozialen Bewegungen“, als die wir später im Soziologendeutsch firmierten, machten durchaus ernst mit dem Slogan der Frauenbewegung, dass das Private politisch sei und nicht nur die Beziehungskiste ein öffentlich zu verhandelnder Gegenstand. Was, nebenbei, dazu führte, dass die Frauen meiner Generation kaum Kinder bekamen. Das Gedankenexperiment, ob Erziehungs- und Elterngeld daran etwas geändert hätten, muss kontrafaktisch bleiben. Vielleicht hatte die eklatante Jugendarbeitslosigkeit jener Jahre viel mehr damit zu tun als fehlende staatliche Subventionen. Es dauerte jedenfalls fast zehn Jahre, bis sich die sich vernachlässigt fühlenden, politisch tickenden Mütter innerhalb der Grünen zu Wort meldeten mit einem „Müttermanifest“, das, nicht zu Unrecht, verdächtigt wurde, ein konservatives Mutterbild neu zubefördern. Es war die Zeit der extremen Pendelbewegungen, der Polarisierung. Moderater Ausgleich galt als Verrat. Es gab, weiß Gott, auch innerhalb der 78er viele Gräben.

Aber von geschlechtsspezifischen Differenzierungen ist bei der Verabschiedung „meiner“ Generation so wenig zu lesen wie von den sozialen Lagen ihres Herkommens. Reinhard Mohr, selbsternannter Biograf der 78er, hat ihr – um nur ein Beispiel zu nennen – jüngst im Cicero unter dem Verdikt „Das Ende der Moralapostel“ eine hämische Grabrede gehalten. Trittin, Künast, Roth und Co. haben die „Klassenfrage“ zur „Gattungsfrage“ umgedeutet, die Natur an die Stelle des revolutionären Subjekts gesetzt und dabei versäumt, „die (Selbst-)Kritik an den Irrtümern des Linksradikalismus“ einzulösen, was Trittin in der neuerlichen Pädophilie-Debatte nun eingeholt habe. Die „Generation Claudia“ sei zu „braven Staatsbürgern“ mutiert, und alle, eiapopeia, in einem „juste Milieu“ glücklich vereint „zwischen iPad und Bio-Ei“. Ein Trittin, der sich am Wahlsonntag über die Kampagne gegen ihn beschwerte, bestätige nur die verschwörungstheoretische Rechthaberei, die dem Konservativismus der fünfziger Jahre in nichts nachstehe.

Explosiver Hintergrund

Man muss das grüne Führungspersonal nicht besonders mögen. Man kann den glatten Profi-Habitus, den Opportunismus, auch die gelegentliche Arroganz ablehnen. Aber dass grün legiertes Politikgut von den übrigen Parteien adaptiert und mehrheitsfähig geworden ist, zeugt ja eher von Erfolg. Selbst wenn die Partei sich damit überflüssig machen sollte, was die Republik nicht in ihren Grundfesten erschüttern würde. Ob sich die demolierten Freidemokraten im übrigen Parteienspektrum auflösen oder sich die Grünen bis zur Ununterscheidbarkeit anpassen, wen kümmert’s? Aber es darf wohl gefragt werden, was eigentlich folgt auf die abgewatschten und ausrangierten 78er, die keine „kritische Masse“ mehr ins Politgeschäft einzubringen haben.

Als Harald Welzer vor den Wahlen öffentlich erklärte, von seinem Stimmrecht keinen Gebrauch zu machen, reagierte das politische Establishment alarmiert. Als Sozialpsychologe dürfte er den damit verbundenen und nachträglich eingestandenen Masochismus einkalkuliert haben, ihm ging es um das Signal. „Radikale Gegenwartsbezogenheit“ und „Utopielosigkeit“ wirft er ausnahmslos allen Parteien vor, Ausfluss eines an sein Ende gekommenen Gesellschaftsmodells, „das zwanghaft aufrecht erhalten“ wird. Welzer hält das für Demokratie gefährdend. Von Politikern erwarte er, dass sie unbequeme Fragen zu stellen lernten und sie der Bürgergesellschaft zumuteten.

Diese Herausforderung ist deshalb bemerkenswert, weil sie uns 40 Jahre zurückzuversetzen scheint. 1972 – also just in der Zeit, in der die Politisierung der 78er begann – legte der Club of Rome seinen Bericht Grenzen des Wachstums vor, eine Frage-Agenda, die bis heute nicht abgearbeitet ist. Der ideologische Kern der Prognose ließ sich im Befund „weniger ist besser“ zusammenfassen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir die damaligen, in jugendlicher Übertreibung als existenziell empfundenen Umweltkatastrophen – vom gekippten Bodensee und den Fischleichen im Rhein über Waldsterben und Asbestverseuchung bis hin zu Tschernobyl – immer vor diesem Hintergrund wahrgenommen haben. Dass das „ganz Neue“ nur aus dem Furor der Apokalypse aufsteigen konnte, schien evident. Womit wir nicht gerechnet haben, war die Reproduktionsfähigkeit des Systems auf immer höherem und schnellerem Niveau und eine gewisse Reparaturbereitschaft. Auf die Explosion, mit der wir immer zu rechnen bereit waren, kann man wohl lange warten. Eine Implosion ist wahrscheinlicher.

Was kommt nach dieser letzten politischen Generation? Wer in die Mitte strebt wie die Grünen, muss am Konsens des Bestehenden festhalten. Sich von Privilegien zu verabschieden ist eine ebensolche Anstrengung, wie politische Haltung zu zeigen. Die steht in der von pragmatischen Politikern und rotationsfreudigem Nachwuchs geprägten Aushandlungsrepublik nicht besonders hoch im Kurs. Was die grüne Führungsriege zuletzt offenbar dazu verführte, Moral auf das Niveau von Verhaltensstilen abzusenken.

Neuere Bewegungen bringen sicher neue Politikstile hervor. Aber wenn die Generation der 78er jetzt auch erledigt sein mag, so gilt das nicht für viele ihrer Fragen. Und die haben mit Moral zu tun. Auch wenn das manchem nicht gefallen mag.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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