Als im Januar 2001 Ulla Schmidt als Nachfolgerin der grünen Gesundheitsministerin Andrea Fischer ihre ersten Auftritte hatte, profilierte sie sich mit einer durchaus charmanten Abkehr von den ehrgeizigen Plänen ihrer Amtsvorgängerin und kündigte an, dass von ihr "keine neuen Verbote" in der Gentech-Politik zu erwarten seien. Die Präimplantationsdiagnostik (PID) versprach sie "aus der Sicht der Frauen" zu beantworten, den Gen-Check für jedermann fand sie erwägenswert und auch der verbrauchenden Embryonenforschung stand sie nicht vollkommen abgeneigt gegenüber. Just war in den Wochen nach ihrem Amtsantritt - zumal, als die Ablösung der kompetenten und kritischen Staatssekretärin Ulrike Riedel durch die forschungsfreundliche Gudrun Schaich-Walch bekannt wurde - immer wieder von der "Kehrtwende in der Biopolitik" die Rede. Die Gazetten prophezeiten den Durchmarsch der neuen Kanzlerlinie, die einige Wochen zuvor das Ziel absteckte: "Ohne ideologische Scheuklappen" sollten künftig auch die ökonomischen Aspekte der Gentechnologie in die politische Waagschale fallen. Die BSE-Krise bot Gerhard Schröder bekanntlich dann den willkommenen Vorwand, nicht nur die wenig geliebte grüne Kabinettsfrau loszuwerden, sondern auch die Aufgabenbereiche zwischen den Koalitionspartnern umzuschichten.
Vornehme Zurückhaltung
Doch Wende wovon und wohin? Wenn man das damalige Szenario und die düsteren Orakel von heute aus betrachtet, muss man sich fragen, ob es eine solche Kehrtwende überhaupt gegeben haben kann, denn der Begriff unterstellt so etwas wie einen festen Kurs, der geändert und eine neue Richtung, die eingeschlagen worden wäre. Doch weder die rote (auf den medizinischen Bereich bezogene) noch die grüne Gentechnik (Landwirtschaft) schien anfangs geeignet, dem rot-grünen Image Farbe zu geben. Vielleicht wäre das anders gewesen, wenn die für das Bundesforschungsministerium vorgesehene Krista Sager nicht hätte in Hamburg Senatorin bleiben wollen; so aber verzichteten die Bündnisgrünen auf das Zukunftsressort, und mit der Wahl der Sozialdemokratin Edelgard Bulmahn war eine personelle Vorentscheidung zugunsten weitgehender Forschungsliberalität getroffen.
Zwar oblag der Gesundheitsministerin offiziell die Regelungskompetenz für die Gentechnologie-Politik, doch machte das Ministerium - etwa bei den Programmen zur Freisetzung gentechnologisch veränderter Pflanzen - in den ersten anderthalb Jahren davon kaum Gebrauch. Bulmahn hingegen erfüllte den Koalitionsvertrag, indem sie gebefreudig die "Innovationsfähigkeit der Bio- und Gentechnologie" ausloten ließ: In der ersten Periode ihrer Amtszeit stockte sie das nationale Genomprojekt mit einer zusätzlichen Milliarde Mark auf, und alleine den Kampagneaufwand im Jahr der Lebenswissenschaften 2001, dessen Höhepunkt ausgerechnet auf den 11. September fiel, ließ sie sich 4 Millionen Mark kosten.
Bundesgesundheitsministerin Fischer ihrerseits war im ersten Jahr ihrer Amtszeit fast ausschließlich in den Clinch mit der Gesundheits-Lobby, die mit Budgetierungsplänen und Positivlisten zu ständigen Ausfallschritten gezwungen war, verkeilt. Erst Anfang 2000 befand Fischer es an der Zeit, aktiv zu werden; wohl nicht ganz unbeeindruckt von der kurz zuvor von Peter Sloterdijk losgetretenen, publizistisch überbordenden Debatte über die gentechnisch zugerichtete Zukunft der Gattung, die auch als Handlungsaufforderung verstanden werden konnte. Dass im Februar 2000 Craig Venter mit der Sensation, das menschliche Genom sequenziert zu haben, aufwartete und sich im Frühjahr nach langen zähen Kämpfen und gegen die Widerstände in der SPD-Fraktion das Parlament entschloss, die Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" einzusetzen, mag den biopolitischen Empfänger der Gesundheitsministerin noch zusätzlich gepeilt haben.
Ende des Dornröschenschlafs
Der Streit um die Enquete-Kommission wirft indessen auch ein Licht auf die innere Zerrissenheit der Sozialdemokraten. Die nämlich hatten, wie immer wieder mokiert wurde, den politisch geordneten Einstieg in die Diskussion um die Gentechnik einfach verpennt, und fanden sich nun quasi "naturwüchsig" in einem innerparteilich polarisierten Feld wieder. Ursprünglich von dem prononcierten Gentech-Kritiker Wolfgang Wodarg mit weitreichenden Kompetenzen konzipiert, fürchteten Gegner der Enquete, das Gremium würde "Fundmentalisten" eine öffentliche Bühne bereit stellen. Wolf-Michael Catenhusen, Staatssekretär im Bulmahn-Ministerium, entwickelte dann eine abgespeckte Kommissions-Fassung und sorgte dafür, dass nicht Wodarg, sondern Margot von Renesse den Vorsitz einnahm, was als Richtungsentscheidung interpretiert wurde.
Während sich im März 2000 also die SPD noch um den Vorsitz in der Enquete zankte, holte Andrea Fischer zu einem echten "Befreiungsschlag" aus: Sie kündigte ein Fortpflanzungsmedizingesetz an, das nicht nur die in den vergangenen zehn Jahren entstandenen "Lücken" im Embryonenschutzgesetz stopfen, sondern auch, wie es der Koalitionsvertrag vorsah, den "forschungspolitischen Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und gesellschaftlichen Akteuren einleiten" sollte. Und dies auf gleicher Augenhöhe, wie die frappierten Wissenschaftler, die damals am viel gelobten Fortpflanzungsmedizinkongress in Berlin beteiligt waren, konsterniert feststellen mussten.
Wenngleich Andrea Fischer damals (noch) sowohl der PID als auch der Embryonenforschung gegenüber eine, wie sie selbst sagte, "wertkonservative" Haltung einnahm, spreizte sich das Grünen-Spektrum in dieser Frage nicht nur auf Bundesebene, sondern auch in manchen Landesverbänden, die sich den Heilungsversprechen der Gentech-Medizin nicht länger verschließen wollten. Das 2001 nachgeschobene "Positionspapier zur Gentechnik" hält zwar an den meisten grünen Essentials - Verbot der Forschung an Embryonen und der PID, Klonverbot - fest, aber mit deutlichen Begründungsverschiebungen. Um die ablehnende Haltung zur PID zu begründen, wird das Lebensrecht des Embryos nun vor dem Selbstbestimmungsrecht der Frau positioniert. Es gab aber schon damals durchaus auch PID-Befürworter, wie der gesundheitspolitische Sprecher der Grünen im Berliner Senat, Bernd Köppl, der die PID umgekehrt gerade als selbst bestimmte weibliche Entscheidung reklamierte. Die andere Seite des verminten Feldes steckte das grüne Enqeute-Mitglied Monika Knoche ab.
Doch weder Fischers ehrgeiziges Gesetzesprojekt und schon gar nicht die im Stillen arbeitende Enquete-Kommission, die sich zunächst vor allem mit der Umsetzung der Biopatentrichtlinie befasste, hatten eine vergleichbare mobilisierende Wirkung wie der plötzliche Anstoß, der im August 2001 aus Großbritannien kam: Die Legalisierung des Embryonen-Clonings zu therapeutischen Zwecken. Die durch Tony Blair gedeckten Absichten britischer Forscher wirkten wie ein Schock und rissen alle bundesdeutschen PolitikerInnen aus ihrem dornröschensanften Glauben, Klon-Experimente ließen sich umfassend regeln und kontrollieren. Zum einen zwang die methodische Nähe des "therapeutischen" zum reproduktiven Klonen zum Blick in die potentiell a-humanistischen Abgründe der Wissenschaft; und mehr noch schockierte die Einsicht, dass nationale Gesetze nur ein dürftiger Schutz gegen internationale Entwicklungen sind.
Gentech-Politik zur "Chefsache" erklärt
Die Furcht vor "Standortnachteilen", der damals boomende "Neue Markt", auf dem die verwertbare Seite der Genforschung gehandelt wurde, und der deutlichere Druck von Seiten der Wissenschaftslobby dürften Gerhard Schröder im Dezember 2000 also bewogen haben, die Gentech-Politik zur "Chefsache" zu erklären. Mit der Inthronisation von Ulla Schmidt verschwand nicht nur das Fortpflanzungsmedizingesetz sang- und klanglos von der Regierungs-Agenda, sondern nach kurzem Paukenschlag auch Ulla Schmidt in dieser Frage - ausgenommen in Sachen Gentests - von der politischen Bühne.
Für den bis dahin von Andrea Fischer verantworteten Bereich hatte dies mehrere Effekte: Zum einen wurde der weite Horizont biomedizinischer Fragestellungen, deren komplizierte Verschränkung sich vielleicht noch am ehesten im nun vorliegenden Abschlussbericht der Enquete-Kommission ablesen lässt, in ein Potpourri von Einzelfragen zerschlagen: Import von Stammzellen, therapeutisches Klonen, PID, Gentests, Genpatente ect. "Konzentration auf wesentliche Fragen" nannte das Staatssekretär Catenhusen, der Fischers geplante rechtliche "Runderneuerung" skeptisch beurteilt hatte.
Zum zweiten kam es zur Annäherung in biopolitischen Fragen zwischen den Bündnisgrünen und der CDU/CSU. Ein eigentlich zum "Streitgespräch" avancierendes Interview der Frankfurter Rundschau zwischen Angela Merkel und Andrea Fischer im Dezember 2000 machte das ebenso deutlich wie der im Jahr darauf initiierte Gruppenantrag zum Importverbot embryonaler Stammzellen, der von grünen Abgeordneten Monika Knoche bis zur CDU/CSU um den christdemokratischen Lebensschützer Hubert Hüppe getragen wurde.
Und drittens versuchte der Kanzler die immer kritischer werdenden Stellungnahmen der Enquete zu neutralisieren, indem er einen Ethik-Rat kooptierte, der seit seiner Berufung im Mai 2001 unter heftigem Legitimationsdruck steht. Öffentlich flankiert wurde dies durch den neuen Staatsminister für Kultur, Julian Nida-Rümelin, der sich Kraft philosophischer Weihe für einen abgestuften Lebensschutz stark machte. Wie in anderen Bereichen auch - sei es das "Bündnis für Arbeit" oder der gesundheitspolitische Runde Tisch - offenbarte der Ethik-Rat die Bemühungen des Kanzlers, parteipolitische Auseinandersetzungen in Gremien zu delegieren und ihnen dadurch die Sprengkraft zu nehmen.
Das Kalkül ging in diesem Falle nicht ganz auf, denn im Frühjahr 2001, als die Bonner Forscher um Oliver Brüstle bei der DFG ihren Antrag zum Import embryonaler Stammzellen aus Israel stellten, erreichte die biopolitische Kontroverse einen neuen Höhepunkt. Sogar der amtierende Bundespräsident Rau und sein Vorgänger Herzog sahen sich genötigt, sich in dieser auch verfassungspolitischen Auseinandersetzung um Lebensschutz und Forschungsfreiheit zu positionieren.
Innerhalb der SPD schälte sich in dieser Phase eine neue Rollenverteilung heraus, die dem Kanzler erlaubte, sich aus der Schusslinie zu nehmen: Während Ministerpräsident Clement den "Rubikon" aus ökonomisch motivierten Gründen einfach überschreiten und die Bonner Forscher "durchwinken" wollte, sondierte Ministerin Bulmahn das Terrain innerhalb der DFG und erklärte die "Forschung an überzähligen Embryonen" plötzlich für "durchaus vertretbar". Hertha Däubler-Gmelin agierte hingegen als verfassungspolitischer und ethischer "Bremsklotz".
Von den Grünen, die im Jahr zuvor ihre Schlüsselstellung kampflos preisgegeben hatten, war regierungsamtlich im Bereich roter Gentechnik kaum etwas zu hören. Andrea Fischer ließ sich in den USA in langen Gesprächen mit Craig Venter vom therapeutischen Nutzen der Genforschung überzeugen und kehrte geläutert wieder. In der Importfrage landete sie schließlich an der Seite von Maria Böhmer (CDU) und Michael Catenhusen in dem taktisch operierenden Kompromissbündnis, der sich im Stammzellenstreit parlamentarisch schließlich durchsetzte.
Zwischen internationalem Druck und bioethischer Befriedungspflicht
So war das gar nicht geplante und unter hohem Druck zu Stande gekommene Stammzellgesetz eines der wenigen Projekte, die im Bereich roter Gentechnik unter rot-grüner Verantwortung realisiert wurden. Obwohl bis in die letzten Sitzungswochen vor der Sommerpause sowohl um die Umsetzung der EU-Genpatent-Richtlinie als auch um eine Regelung für Gentests gestritten wurde, sind beide wichtigen Initiativen in die nächste Legislaturperiode geschoben worden. Gleiches gilt für die Präimplantationsdiagnotik, die Überprüfung der pränatalen Diagnostik im Hinblick auf Spätabtreibungen, ganz zu schweigen von den "Desideraten", die die Enquete auflistet: neue Verteilungsregelungen bei der Transplantation, Sterbebegleitung und Sterbehilfe und die Forschung an nicht-einwilligungsfähigen Menschen.
Wenn das Stammzellgesetz im Ergebnis politisch auch inkonsequent und technokratisch ist, hat die Debatte darum in der Bundesrepublik dennoch etwas ausgelöst, was andere Problemfelder nicht erreichten: Eine breite gesellschaftliche Diskussion darüber, bis zu welchem Grad menschliches Leben manipulierbar sein und ob es vernützlicht werden soll, und ab welchem Punkt der Forschertrieb gesetzlich eingeschränkt werden muss. Das überraschende zweijährige Moratorium, das die EU diese Woche für die Förderung von Embryonenforschung beschlossen hat, begünstigt diese weitere Debatte. Wer es am Ende für sich nutzt - die ethischen "Bedenkenträger" oder die Forschungslobby - bleibt allerdings abzuwarten.
Die Diffundierung der parteipolitischen Landschaft und die politische Handlungsunfähigkeit in diesen Fragen sind indessen kaum mehr reversibel; insofern hat diese Legislaturperiode einen ohnehin schleichenden Prozess nur beschleunigt. Zwischen internationaler Entwicklung und Standorterwägungen einerseits und bioethischer Befriedungspflicht andererseits eingespannt, wird sich der Druck innerhalb der Parteien verstärken. In der öffentlichen Wirkung allerdings haben die Diskussionen das "Gen im Kopf" von einer "wissenschaftlichen" zu einer politischen Tatsache werden lassen. Die Genetisierung auch des politischen Diskurses in dem Sinne, dass Entwicklungen vorbestimmt und unaufhaltsam erscheinen - sei es durch die internationale Entwicklung, sei es durch die AkteurInen im Alltag -, wird unsere gesellschaftliche Zukunft vielleicht mehr beeinflussen, als die gentechnologischen Entwicklungen selbst. Der Witz dabei ist, dass Ernst zu nehmende Wissenschaftler den genetischen Determinismus längst verabschiedet haben. Das von ihnen auf den Körper projizierte Netzwerkmodell könnte künftig zum politischen Vorbild werden.
Die Bilanz zur rot-grünen Regierungspolitik umfasste bislang die Bereiche Recht, Arbeit und Soziales sowie der Außenpolitik. Nach dieser Einschätzung der Gentechpolitik folgt in Ausgabe 34 die Familienpolitik, mit der wir die Bilanzserie beenden.
Siehe auch Tamás Nagy: Transparente Kontamination in dieser Ausgabe
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