Gang durch das Höllentor

Verfehlungen Antal Szerbs irrlichternder Roman "Reise im Mondlicht"

Alles in diesem Buch ist in Silber getaucht. Nicht nur die Landschaften: die Hügel von Buda, das venezianische Gassengewirr, die alten umbrischen Städte mit den Totentüren in den Häusern und selbst das römische Armenviertel Trastevere der dreißiger Jahre. Auch die Figuren wirken, als wandelten sie in feinstem Silberschleier, gewebt aus Mondstrahlen, und silbern fallen ihnen die Worte aus dem Mund, sehr leicht und klug, manchmal geheimnisvoll, aber bei aller nächtlichen Verschattung, bei allem traumseligen Zauber immer dem Leben zugewandt, ironisch, komisch und sehr lebendig. Selten hat ein lakonischer Titel die Atmosphäre eines Romans besser getroffen als Reise im Mondlicht - gerade weil er das ungarische Original (Der Wanderer und der Mond) nur begrifflich nachempfindet.

Dabei ist die Geschichte von Mihaly und seiner jungen Ehefrau Erzsi, seiner Jugendfreunde Éva und Tamás Ulpius und des zum Katholizismus konvertierten Juden Ervin, den Mihaly in einem italienischen Kloster wieder findet, durchaus auch tragisch. Wenn man es denn tragisch nennen mag, dass Mihaly auf der Hochzeitsreise durch Italien während eines kurzen Aufenthaltes auf dem Bahnhof von Terontola seine Gattin "verliert" und, statt mit ihr weiter nach Rom zu fahren, entgegengesetzt im Zug nach Perugia landet. Tragischer ist schon der frühe Selbstmord seines todessüchtigen Freundes Tamás oder das Schicksal des todkranken Ervin, der inkognito als Pater Severinus sein Askese-Ideal lebt. Mihaly selbst, dieser feinsinnige Mensch, der für das bürgerliche Geschäft in Budapest nicht taugt und mit Hilfe seiner jungen Frau doch den Kotau vor dem bürgerlichen Leben probt, entzieht sich schon deshalb tragischer Verwicklungen, weil er ständig vor den Orten flieht, "wo die wichtigen Dinge geschehen" und solche sucht, von denen erhofft, "dort etwas zu finden, wovon alles Ordnung" käme.

Doch was "nicht in Ordnung" ist, eröffnet der in nachsichtig-ironischer Distanz verweilende Erzähler erst im Laufe dieser merkwürdigen Reise durch Italien: Die vollkommene, vernünftige Ehe der Jungvermählten beginnt zu kriseln, als Mihaly Erzsi einen Blick in die verwirrten Abgründe seiner Jugend tun lässt: Die verworrene, inzestuös gestimmte Beziehung des Geschwisterpaars Ulpius, um das sich Mihaly, Ervin und der Filou János scharen; die todesverliebten Spiele des Kreises und die unglückliche Liebe Mihalys zu Éva, die ihn abweist.

Getrennt von Erzsi und mittellos durch Umbrien streifend, nimmt Mihaly die längst verloren geglaubte Spur Évas wieder auf. Zwischen Pflicht und Neigung zerrissen, hofft Mihaly in Italien auf den "Exorzismus" seiner Erinnerungen, während die tatkräftige Erzsi nach Paris weiter zieht. Ihre Hoffnung, von Mihaly aus dem bürgerlichen Leben gerissen zu werden, wurde ebenso enttäuscht wie die seine, durch sie endlich ein "anständiger Bürger" zu werden. Verfehlte Projektionsflächen, alle beide.

Nur eben kommt dieses so ganz alltägliche Ehedrama ganz und gar nicht dramatisch daher, nicht larmoyant, geschwätzig, auch nicht unterkühlt sachlich, wie es vielleicht seiner Entstehungszeit (1937) angemessen gewesen wäre. In Antal Szerbs Geschichte verfehlen sich Mihaly und Erzsi so leicht-sinnig und -füßig und eben doch notwendig wie auf dem Bahnhof von Terontola. Man muss die Geschichte gar nicht weitererzählen. Nichts von Erzsis Kampf mit dem persischen "Tiger", nichts von Mihalys Begegnungen mit einer verrückten Amerikanerin, einem besessenen Thanatologen oder der köstlichen Vannina, die Mihaly in eine Wirklichkeit zurückholt, die nicht von den abwesenden Ulpius-Geschwistern bevölkert ist.

Aber man muss erzählen von der Plastizität, mit der Antal Szerb jede dieser unverwechselbaren Figuren formt, von den irrlichternden Sentenzen, die er ihnen in den Mund legt, von den bildungstrunkenen Streifzügen durch die italienische Landschaft und Kunst - und von den litaraturbelesenen Miniaturen, die der Autor en passant einstreut. Doch nicht nur in der Literatur, weiß Mihalys Konkurrent Zoltán, der Erzsi nicht treu sein konnte, aber ohne sie nicht leben kann, auch im Geschäftsleben "wird der Kampf um die Fiktion geführt... Hier sucht man das Kapital, das schon aufgrund seiner Dimensionen nicht den geringsten Sinn hat." Es stimmt schon, was Péter Esterházy in seinem Nachwort schreibt: In diesem Roman findet jeder seinen Lieblingssatz.

Wenn Mihaly am Ende wieder in den bürgerlichen Schoß seiner Familie zurückkehrt, ist das keine eigenständige Entscheidung, sondern nur ein weiterer Versuch sich anzupassen. Die Väter, die Zoltáns, die Firmen, heißt es am Ende des Romans, sind immer stärker. Und die politischen Tatsachen, die in diesem Traumstück, inmitten des faschistischen Italiens, keine Rolle spielen. Der Untergang der bürgerlichen Welt des alten Ungarns spielt sich im Privaten ab: Im Spiel mit dem Selbstmord, in den Ehedramen, der Drogensucht und im Verhältnis zur Religion.

Immer wieder ist zu lesen, dass Antal Szerb, Jahrgang 1901, getaufter Jude und habilitierter Literaturwissenschaftler, der zwei bis heute gültige (im kommunistischen Ungarn zensierte) Literaturgeschichten hinterlassen hat, in der Geschichte Mihalys auch ein Selbstporträt entworfen hat: "Mein ganzes Schreiben ist letztendlich eine ruhige und kühle Äußerung über mich selbst wie über einen Fremden", zitierte ihn sein viel jüngerer Landsmann Görgy Dalos in einem lesenswerten Zeit-Essay, das auch die Rezeptionsgeschichte des Romans in Ungarn auffaltet. Die äußeren Signaturen und inneren Bewegungen, die Antal Szerb mit seinem Helden teilt, etwa die zeitweilige Wendung zum Katholizismus, sind unübersehbar. Ob dies auch für die masochistisch anmutende Rolle des Gefolterten gilt, die Mihaly für das Geschwisterpaar auf die Bühne des Ulpius-Hauses bringt, wissen wir nicht. Mihaly muss in seiner Phantasie durchs Höllentor gehen, um erlöst zu werden.

Sein Schöpfer musste dieses Höllentor tatsächlich durchschreiten: Nach der Besetzung Ungarns 1944 durch die Deutschen war Szerbs Stellung an der Universität von Szeged nicht mehr zu halten; trotz Taufschein wird er in das Arbeitslager Balf an der österreichischen Grenze deportiert. Dort stirbt er im Januar 1945 unter nicht ganz geklärten Umständen. Auch dieser letzte Romantiker ist "den Tatsachen" nicht entkommen, doch Reise im Mondlicht erinnert Jahrzehnte nach seinem Tod an einen Mythos Jugend, der sich ganz nur im Silberglanz des Mondes entfaltet.

Antal Szerb: Reise im Mondlicht. Roman. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Mit einem Nachwort von Péter Esterházy. dtv-Taschenbuch 2003, 258 S., 14,- EUR


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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