Generationengerechtigkeit?

KOMMENTAR Wie der Kanzler die Alten auf die Autobahn schickt

Wer lesen kann, der lese. Und wer hätte wissen wollen, war gewarnt. Denn alles stand 1999 schwarz auf weiß in einem Dokument, das als Schröder-Blair-Papier die publizistische Runde machte. Die Neue Mitte sollte damals auf einen Dritten Weg gelotst werden, und der Staat wollte nicht mehr "rudern", sondern nur noch "steuern". Statt sozialer "Hängematte" halsbrecherische Übungen vom "Sprungbrett", statt Faulheitsanreize durch exorbitante Arbeitsloseneinkommen die Überprüfung der Leistungsfähigkeit und statt Sozialhilfe staatlich subventionierte Tätigkeit im Niedriglohnsektor. Die Bundesanstalt für Arbeit galt schon damals als eklatanter Modernisierungshemmer im "freien Spiel der Marktkräfte".
Das alles hat der gerade gekürte Präsident der Bundesanstalt für Arbeit Florian Gerster für bare Münze genommen und sich weit aus dem Fenster gehängt. Ausgerechnet älteren Arbeitslosen, die auf dem Arbeitsmarkt am wenigsten Chancen haben, will er an die Bezugsdauer. Dabei waren sie es, die noch vor kurzem mit einer Vorruhestandsregelung geködert wurden, um für Jüngere Platz zu machen. Generationsgerechtigkeit, hieß das damals. Ein paar Jahre später sollen den Ausgemusterten nun nicht einmal mehr die verbürgten Versicherungsleistungen zustehen, da bleibt nicht einmal mehr der Verschiebebahnhof im Sozialsystem.
Die Gewerkschaften, in Sachen Arbeitsmarktpolitik in den vergangenen Jahren nicht gerade mit Weisheit geschlagen, protestieren dumpf. Die FDP applaudiert dem neoliberalen Kurs, während der grüne Noch-Koalitionspartner darüber nachdenkt, wie man die Älteren auf Teilzeitbasis in Rente schicken kann, mit entsprechenden Einbußen bei den Renten. Dessen Vordenkerin Thea Dückert hat sich vor dem EU-Gipfel in Barcelona offenbar das Ansinnen der EU-Sozialkommissarin Anna Diamantopoulou zu eigen gemacht, die bereits im Januar "die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung und Förderung des aktiven Alterns" forderte: Schluss mit einer Arbeitsmarktpolitik, die das Nichtstun honoriere, Schluss mit goldenem Handschlag und teurem Vorruhestand in den Hochlohnländern, dagegen Absenkung der Einkommen auf den EU-Durchschnitt.
Ganz darf die SPD, nachdem sie mit einem sturzdummen Hochschulrahmengesetz schon ihre Linksintellektuellen brüskierte, ihre treuesten Hintersassen nicht vergrätzen. Das weiß auch der Kanzler, weshalb er den vorlauten Florian am Ende vielleicht lieber zum Gesundheits- als zum Arbeitsminister macht. Vielleicht reicht er ihn nach der Septemberwahl auch einer Großen Koalition zum Fraß. Den Ossis hat er am Wochenende vorsorglich ein paar Autobahnen versprochen. Ziehe hier keiner eine historische Parallele! Nach bald 20 Jahren sollen die Staatsdiener im Osten in den Genuss von BAT-West kommen. Wie weit der bis 2007 dann "auf EU-Niveau" abgesenkt ist, steht in fernen Koalitionssternen.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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