„Jetzt schlägt die Stunde der Experten“, schrieb gestern unser User Frans-von-Hahn in einem Kommentar. Will sagen: Wenn der erste Schock vorbei ist, wird nach Ursachen gesucht, die zu erhellen wir uns von den Sachverständigen erhoffen. Statt sich hinter Expertenmeinungen zu verschanzen, hatte die Redaktion des Freitag die Community aufgerufen, sich mit ihr über die schrecklichen Ereignisse in Winnenden auszutauschen, und die Reaktionen deuten auf ein starkes – wenn auch nur virtuell ausgelebtes – Bedürfnis nach Kommunikation hin.
Viele Erklärungen, keine Antwort
Wie überall im Land, folgte auf den ersten Schock – auf die Ungläubigkeit, dass so etwas wieder einmal nebenan, in einer kleinen, scheinbar wohlgeordneten Stadt ohne größere Probleme, mitten unter uns passiert – das Bedürfnis, das Unerklärliche zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren: „Wirkliche Trauerarbeit“ würde nicht mehr gelernt, beklagt Nutzer Bildungswirt angesichts der plappernden Medienheuchelei. Er schwanke zwischen „Obsession“, die ihn unablässig vor dem Fernseher halte, und „Gleichgültigkeit“, schrieb Blogger Lukas Heinser schon am Dienstag. „Und wieder einmal fühle ich mich schlecht“, bekennt blunez, denn die Trauer würde von der Wut verdrängt, die Tim K. wieder einmal zu einem Einzeltäter mache. Dass „jeder von uns heftige Hassanfälle“ kennt und sich in Racheszenarien reinsteigern könnte, glaubt auch m1, und User merdmeister treibt diese Überlegung sogar auf die Spitze: „In jedem von uns steckt ein Amokläufer“.
Die Freitag-Community, interpretiere ich diese Reaktionen, hat ein sicheres Gespür für das „Zeichen“, das „Winnenden“ setzt: Über den wie auch immer durchgeknallten, verzweifelten Schüler, der seinen Selbstmord möglichst medienwirksam und blutrünstig inszenieren wollte, hinaus, sieht sie in dem, was da passiert, ein Menetekel, das auf uns selbst und unsere gesellschaftliche Verfasstheit verweist: Niemand sei als Amokläufer geboren, glaubt Jakob Fricke, der sich nicht mit Gewalt, die schicksalhaft über uns kommt, abfinden will; die Konkurrenzgesellschaft, die nur vom Vergleich lebe, grenze Menschen, die mit diesen Regeln nicht klarkommen, aus, beklagt ufin; „in welcher Kultur, in welchem Dampfkessel leben wir!“, fragt rhetorisch nbo; und saturday sieht einen Zusammenhang zwischen Amok und Krieg: „Mein Eindruck ist, dass ein Krieg führender Staat das Verhältnis seiner Bewohner zu Gewalt massiv verändert.“ Aus einer solchen Perspektive wäre auch eine Verschärfung des Schusswaffengesetzes keine probate Gegenmaßnahme, sondern diente höchstens der Selbstberuhigung.
Wie überall machen sich auch User und Blogger im Freitag Gedanken über den Zusammenhang von Amok und Internet. Der Beitrag von Axel Brüggemann hatte dazu ein erstes Angebot gemacht: Nicht nur nutzten Amokläufer wie Tim K. das Internet, um sich aufzuheizen und ihre Tat „unernst“ anzukündigen, die Netzgemeinde mache den Schauplatz der Tat zum virtuellen Tatort und inszeniere dort selbst ihren Kriminalboulevard. Insofern sind wir als Konsumenten alle eingebunden in die „Tat“, ihre freiwilligen oder unfreiwilligen Mitspieler – „eine fatale Kommunikationsform“, wie der Kollege Steffen Kraft meint. Ohne Internet und Medien kein „Genre“ und immer neue Vorlagen, ohne sensationsheischendes Publikum kein Anreiz, auf diese Weise unsterblich zu werden.
Man solle wieder mehr aufeinander aufpassen, empfehlen Experten, was Freitag-Verleger Jakob Augstein sofort alarmiert, weil er den „Kontroll- und Präventionswahn“ schon auf die Peer Groups ausgeweitet sieht. Wohl wahr. Aber ob Nur-Schweigen ein Ausweg ist? Ein junger Mann namens Tim K. hat mit seiner schrecklichen Tat eine neue Wirklichkeit hervorgebracht, zu der wir uns, so oder so, verhalten müssen. Über seine individuellen, angesichts der grauenvollen Folgen immer nur als „banal“ zu wertenden Gründe zu spekulieren, wird weiterhin Geschäft der Medien sein. Und schon bald, prophezeit I.D.A. Liszt, „wird eine andere Sau durchs Dorf getrieben.“
Ich persönlich glaube, dass wir ernst nehmen sollten, dass es sich bei Amokläufern fast immer um Jugendliche an der Grenze zum Erwachsenenalter handelt, als ob diese Grenze, diese „Haut“ – über alle individualpsychologischen Deutungen hinaus – besonders anfällig und verletzlich sei. Was unsereins tagtäglich unterdrückt und was als erfolgreiche Zivilisationsleistung empfunden wird, bricht sich bei jugendlichen Amokläufern Bahn: Ein Leib, der mit der Umwelt nicht in Einklang gebracht werden kann. Kein Zufall, dass es sich fast ausschließlich um männliche Jugendliche handelt, und nicht deshalb etwa, weil die waffennärrischer sind. Männliches Dominanzgebaren wird nicht nur in der Schule eingeübt, sondern auch in der hohen Politik kultiviert, man muss da gar nicht an den abgetretenen amerikanischen Präsidenten erinnern.
Mein Eindruck ist, dass sich das mit der gesellschaftlichen „Feminisierung“ sogar noch verstärkt hat. Es sind dann gerade die Zurückgewiesenen, Sensiblen, Verschreckten, die „austicken“. Zu früheren Zeiten pflegte man die Jungmännerkohorten regelmäßig in den Krieg zu schicken. Jetzt machen sie ihren eigenen Krieg. Mitten unter uns. Dass wir jedes Mal „geschockt“ reagieren zeigt, dass wir das „Zeichen“ dieser „VerRRückten“, wie merdmeister sie nennt, durchaus verstehen. Die „Wahrheit“ einer Gesellschaft war schon immer an ihren Randbereichen und Grenzen auffindbar.
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