Wenn in der Erotik das Verhüllte stärker wirkt als das Nackte, so wird auch die Pikanterie des Kunstwerks erhöht, wenn sein Eigentliches durch die Hüllen schimmert.« Diese von einem in den zwanziger Jahren ziemlich bekannten Kritiker formulierte Sentenz, die den damals modischen Authentizitätsgeboten der Literatur Paroli bot, könnte als kleiner ironischer Wegweiser auch einen Roman begleiten, der zwar erst dieser Tage auf dem deutschen Markt erschien, der jedoch in die Stadt und die Zeit führt, auf die sich das Zitat bezieht, in das Berlin der endzwanziger Jahre. Die Wahrheit über Sascha Knisch verspricht der Schöpfer Aris Fioretos augenzwinkernd seiner Leserschaft, als ob mit dieser Ankündigung eine Figur mit einem derart komischen Namen zu nobilitieren und umgekehrt damit eine »Wahrheit« überhaupt bedeutsam zu machen sei. Das Cover, auf dem ein halb verdeckter nackter Jüngling hinter einem Samtvorhang hervorlugt, straft zudem das titelgebende Programm Lügen: die Schatten, die die »Wahrheit« werfen, sind reine Illumination.
Insofern ist es kein Zufall, dass der junge Mann namens Sascha Knisch im Brotberuf als Filmvorführer fungiert. »Deutsch« und »anständig« verdient er die Miete für die schäbige Behausung, die unverzichtbaren Moslems und sorgt dafür, dass seine Existenz kein Aufsehen erregt. Sascha Knisch ist, wie so viele Jünglinge seines Jahrgangs (1899), aus dem modernden Wien ins moderne Berlin geflüchtet und geht, wenn er nicht gerade Projektionen an die Wand wirft, einer Leidenschaft nach, die er im Zimmer 202 eines berüchtigten Etablissements auslebt. Dort nämlich verwandelt sich Sascha in eine unbestimmbare Existenz mit Vorliebe für gelbe Blusen, Stöckelschuhe und ausgepolsterte BHs. »Offenbar reichte schon ein Meter aus, um zwei Wesen voneinander zu trennen. Jetzt war ich nicht nur anonym, sondern reduziert, nein... konzentriert auf meine Triebe. Eben noch eine Person mit Biografie, war ich nun ein Geschlecht ohne Geschichte.«
In Zimmer 202 erwartet ihn Dora, eine minette, die Männern wie Sascha sanft dabei behilflich ist, »sich in Lampen, Fußschemel, Pudel oder Schulmädchen zu verwandeln«. Irgendwann bricht die Realität in den wöchentlichen Besuchsmodus ein, Sascha und Dora kommen sich näher, entfernen sich wieder voneinander, eine fast normale Liebesbeziehung. Bis Sascha an einem heißen Nachmittag im Jahrhundertsommer 1928 Dora zu Hause besucht und sich in ein »Schrankmädchen« verwandelt, weil ein unerwarteter Besucher vor der Türe steht. Von diesem Augenblick an ist nichts mehr wie es war. Sascha wird indirekt Zeuge eines Mordes und gerät in Verdacht, der Täter zu sein.
Die Geschichte, die Sascha nun aufrollt, führt weit zurück: Zu einer jungen Frau, die schwanger aus der Provinz in die Stadt kommt, sich emanzipiert und hinter Masken verbirgt; sie handelt von den Versuchen, die im Krieg verlorene »männliche Ehre« mittels grausamer medizinischer Virilitätsexperimente zu kompensieren; und von einer (Film-)Kultur, die an ihren Rändern die verdrängten Lüste des Publikums in Pornographie ummünzt. Am Schnittpunkt all dieser Fäden steht das sexuologische Institut und Museum des Medizinalrats Froehlich, unschwer zu dechiffrieren als das von Magnus Hirschfeld 1919 gegründete Institut für Sexualwissenschaft. Froehlich steht für sexuelle Aufklärung und optimistische positive Eugenik; seine Widersacher - im Roman vertreten durch die brutal agierende »Bruderschaft«, die die »biologische Erhebung des Mannes« anstrebt - investieren das eugenische Kapital in eine biologistisch fundierte, rassistische und frauenfeindliche Gesellschaftsprojektion.
Wie schon in seinem ersten Roman Die Seelensucherin ist auch in dieser turbulenten, vordergründig als Kriminalroman aufbereiteten Geschichte Fioretos Interesse an der medizinischen Idee vom Körper unverkennbar. Das führt der 1960 in Göteborg geborene Autor selbst auf die Profession des Vaters, eines griechischen Arztes, der mit seiner österreichischen Frau vor der Junta nach Schweden emigrierte, zurück. Doch was in Sascha Knisch verhandelt wird, geht weit über einen Krimi, der krankhafte Forscherleidenschaft und wissenschaftliche Hybris enthüllen will, hinaus. Auch präsentiert Fioretos keinen historischen Roman engen Sinns, selbst wenn viele der Ereignisse bis ins Details verbürgt sind.
Das historische Material liefert ihm nur die Substanz für eine Geschichte, die von den Verkleidungen in einer Kultur, die auf (sexuelle) Eindeutigkeit gestimmt ist, handelt. Wie Hirschfeld das »graue Geschlecht« - die vielfältigen Nuancen und Abweichungen von der sogenannten Normalität - ergründen wollte, gilt das Interesse des Autors Fioretos ebenfalls nicht der »Wahrheit«, die sich hinter den Kostümierungen Saschas verbirgt, sondern er nimmt das Kostüm Ernst und begleitet seinen Helden bei dem Versuch, »eine Welt, die nichts von ihm wissen will, in Worte zu kleiden«.
Das dabei vollbrachte literarische Experiment zeitigt mitunter glänzende Auftritte, etwa wenn aus dem »Mädchen« Sascha eine »Dame« wird, die lernen muss, sich im Rock zu bücken oder eine Handtasche zu halten. Geschlecht ist eben eine Konstruktion, egal, ob für den Jüngling oder das »Schrankmädchen«; und der filmisch geeichte Blick, der mit den Traditionen des Stummfilms und den zeitgenössischen Verwechslungskomödien meisterhaft spielt, machen solche Sequenzen zur reinen Leselust. Dass das Berlin der zwanziger Jahre eher als körnige schwarz-weiß-Fotografie, denn als lebendiges Tableau aufscheint, ist dabei eher von Vorteil.
Mitunter allerdings führt Sascha seinen theoretisch beschlagenen »Ghost Writer« aufs schlüpfrige Eis schwülen Naturalismus (der hierauf spezialisierte »Stellenleser« wird nicht enttäuscht). Selbst dort, wo die Szenen parodistisch grundiert sind, muss mit dem eingangs zitierten Gewährsmann gefragt werden, ob nicht gerade die Verhüllung Erotik und Kunst zu ihrer wahren Entfaltung bringt. Oder, um es mit den Worten des 1934 aufgestiegenen kommissarischen Stadtmedizinalrats Wickert, der Sascha das letzte fiktive Geleit gibt, zu formulieren: »Worte sind wie Kleider. Niemand ist frei, sie auf Kosten der Umwelt zu wählen.«
Aris Fioretos: Die Wahrheit über Sascha Knisch. Roman. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. DuMont, Köln 2003, 350 S., 22,90 EUR
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