Ein wenig abseits der alternativen Berliner Touristenmeile, hinter den Hackeschen Höfen und inmitten des ehemaligen jüdischen Viertels liegt das Kulturwissenschaftliche Institut der Berliner Humboldt-Universität (HUB). An diesem historischen Kreuzungspunkt der Kulturen entstand vor einigen Jahren eine Idee, die seit dem Wintersemester 1997/98 Wirklichkeit geworden ist: Die Einrichtung eines Studienganges Geschlechterstudien/Gender Studies. Es ist gewiß kein Zufall, dass der Impuls ausgerechnet von diesem Institut kam, geht es doch, wie die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun, damalige Dekanin der Fakultät III der HUB, bemerkt, darum "die kulturgeschichtlichen Zusammenhänge zu begreifen, die dazu führten, dass der männliche Körper zur Symbolgestalt des Geistigen und der weibliche zur Symbolgestalt des Körperlichen, Sterblichen und der Sexualität geworden ist".
Das wissenschaftspolitische Klima war Mitte der neunziger Jahre, als der Neuaufbau der universitären Strukturen der ehemaligen DDR in vollem Gange war und durch Neuberufungen frischer Wissenschaftswind in die verwitterten Gemäuer der Humboldt-Universität wehte, relativ günstig, wenn gegenläufig auch bereits die Sparbeschlüsse des Berliner Senats im Unibereich spürbar wurden. "Wir hätten damals aus rein finanziellen Gründen nie ein eigenes Institut durchgesetzt", erinnert sich die Kulturwissenschaftlerin. Ein separates Institut für Geschlechterforschung wurde von den Initiatorinnen auch nicht angestrebt. Die Idee war vielmehr ein fächerübergreifender Studiengang, der entlang den kritischen Fragen nach dem Geschlecht verschiedene Lehr- und Forschungsgebiete abdecken sollte: "Wenn man sich zum Beispiel den Sittenkodex oder die Religionsgesetze der Gemeinschaften anschaut, so erkennt man, dass die Gesetze, die das Leben und die Ordnung der Geschlechter regeln, überall den Kern des Kodex ausmachen. Wie wird die Fortpflanzung reguliert, wie hat sich der männliche und weibliche Körper zu verhalten und auf welche Weise wird er unterworfen? So entsprechen dann nicht durch Zufall bestimmte Rechtsauffassungen den Konstrukten und Denkmustern, die sich zeitgleich in der Philosophie oder in der Medizin finden."
"Entzifferungsarbeit" nennt von Braun den Versuch, Konzepte, Stereotype und Vorurteile über Weiblichkeit und Männlichkeit zu analysieren und der Kritik auszusetzen. Das Schlüsselwort heißt "Interdisziplinarität". 25 Disziplinen an acht Fakultäten allein an der Humboldt-Universität beteiligen sich in Form eines Kooperationsvertrags an diesem akademischen Experiment, das von der vielfältigen Hochschullandschaft der Stadt profitiert: Mit von der Partie sind die vier philosophischen Fakultäten, außerdem die Juristische, Medizinische Theologische sowie die Landwirtschaftlich-Gärtnerische Fakultät. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Lehrangebote der Freien Universität und der Technischen Universität Berlin sowie der Hochschule der Künste.
Der als Magisterstudium konzipierte Studiengang kann im Haupt- oder Nebenfach belegt werden. Als Hauptfach muss es allerdings mit einem zweiten Hauptfach kombiniert werden, damit die Studierenden, wie Studienberaterin Katrin Schäfgen erklärt, in einer "traditionellen" Disziplin eine gründliche theoretische und methodische Ausbildung erhielten. Im Moment gehe der Trend eher zum Hauptfachstudium, was Schäfgen sinnvoll erscheint, denn nur so "hat man wirklich etwas von Gender Studies."
Das viersemestrige Grundstudium umfaßt 40 (resp. 20) Semesterwochenstunden, obligatorisch ist der Besuch der Einführungsvorlesung, sind Pflichtveranstaltungen aus den Wissenschaftsschwerpunkten I und II: Der Schwerpunkt I umfasst die gesellschafts- und naturwissenschaftlichen sowie die anwendungsorientierten Diszplinen, der zweite Schwerpunkt ist geistes- und kulturwissenschaftlich orientiert. Weitere Lehrveranstaltungen werden im Wahlpflicht- und dem frei wählbaren Bereich angeboten. Im Hauptstudium müssen sich die Studierenden schließlich für einen Wissenschaftsschwerpunkt entscheiden, wobei der Schwerpunkt nicht identisch sein darf mit dem zweiten Hauptfach.
Nimmt man das aktuelle Vorlesungsverzeichnis zum Maßstab, dominiert im Schwerpunkt I der Themenkreis "Arbeit": Die Soziologinnen beschäftigen sich zum Beispiel mit der Krise der Arbeitsgesellschaft oder verfolgen die Entwicklung der Dienstleistungsgesellschaft aus Gender-Perspektive; die landwirtschaftlich-gärtnerische Fakultät weitet diesen Blick global aus: Thematisiert werden hier das Verhältnis von Frauen und Ökologie, Geschlechterverhältnisse im ländlichen Raum oder die arbeitsteiligen Systeme von Männern und Frauen in den Ländern des Südens.
Der Aufarbeitung der jüngsten deutschen Vergangenheit widmen sich die Historikerinnen am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der Technischen Universität Berlin: Erinnerungsarbeit, die Erfahrungen der Frauen im KZ Ravensbrück oder die geschlechtsspezifische Behandlung von Angeklagten vor den Kriegsverbrechergerichten stehen hier im Mittelpunkt. Im zweiten, kulturwissenschaftlich dominierten Schwerpunkt geht es schließlich darum, wie sich die geschlechtsspezifischen "Spiegel-Bilder" zum Beipiel im Film, in der Philosophie oder in der Literatur manifestieren. Ein kleines Residuum fristet auch die in den USA ungleich stärker etablierte Männerforschung: Wie stellt sich Männlichkeit in der Politik dar, und welche Konzepte einer "patriarchatskritische Männerarbeit" sind denkbar?
Als der Studiengang im Wintersemester 1997/98 erstmals belegt werden konnte, war das studentische Interesse selbst für die Ini tiatorinnen überwältigend. Über 500 Studierende, davon über 350 HauptfächlerInnen drängten sich damals in den Einführungsvorlesungen und -seminaren, die von den Studierenden oft genug auf dem Fußboden oder auf den Fensterbänken absolviert werden mußten. "Mir gefällt", erklärte kurz nach der Einführung eine Studentin unter allgemeiner Zustimmung, "dass es sich um ein neues Studienfach handelt, wo sich noch etwas bewegen läßt und die Strukturen machbar sind." Der Zufall wollte es, dass die Erprobungsphase des neuen Studienganges in den universitären "Streikwinter" 1997/98 fiel. Damit geriet der "normale" Studienalltag zwar heftig durcheinander, bot den Studierenden andererseits auch Gelegenheit, sich überhaupt kennzulernen und zu vernetzen.
Neben den Problemen, die Gender-Studies-Studierende mit allen StudentInnen teilten, hatten diese auch noch mit den "Kinderkrankheiten" dieses als Experiment angelegten Studienganges zu kämpfen. Einerseits waren die verschiedenen Fachdisziplinen von dem Andrang zusätzlicher StudentInnen überrascht, und wo nicht ohnehin Vorbehalte gegenüber dem Studiengang existierten, gab es zumindest Verteilungskonkurrenzen, denn die Universität stellte kaum nennenswerte zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung. Mittlerweile hat sich - durch die Einführung eines an der HUB üblichen Numerus Clausus und weil zahlreiche StudentInnen als "SeiteneinsteigerInnen" in andere Fächer gewechselt haben - die Zahl der Studierenden um die 250 eingependelt, "darüber", so die "Architektin" des Studiengangs, "sind wir heilfroh".
So überzeugend der interdisziplinäre Anspruch theoretisch auch sein mag, in der Praxis erweist es sich als mühsam, die vielfältigen Themenkreise und Disziplinen theoretisch und methodisch zu integrieren. Unterschiedliche Vorbildung, divergente Theorien und Fachmethodiken machen es gerade den Erstsemestern schwer, sich zu orientieren: "Am Anfang", war von studentischer Seite zu hören, "fand ich es unheimlich spannend, dass ich die Auswahl hatte. Dann merkte ich, welchen tierischen Aufwand es bedeutet, sich in die einzelnen Fächer überhaupt zu vertiefen, um mitreden zu können."
Einerseits, bestätigt auch Christina von Braun dieses Problem, sei die Vernetzung so vieler Disziplinen ein großer Vorteil, der ihnen ermögliche, Querverbindungen herzustellen. "Andererseits versetzt es die Studierenden in eine Situation, überhaupt kein Handwerkszeug bereit zu haben." Einige kommen nach Brauns Beobachtung nach einigen Semestern "schwimmen" ganz gut zurecht, für andere sei es ein großes Problem, insbesondere, wenn es darum gehe, für Prüfungen zu lernen.
Nach vier Semestern Erfahrung und den ersten erfolgreich abgelegten Zwischenprüfungen wurden Konsequenzen gezogen: In den Einführungsveranstaltungen sollen die Gemeinsamkeiten der Fragestellungen stärker betont und durch Tutorien vertieft werden. Darüber hinaus entwickelt die Gemeinsame Kommission derzeit ein (kostenneutrales) Modell, um die fortgeschrittenen Studierenden in die Lehre einzubinden und ihre Erfahrungen an die Anfänger weiterzugeben. Wie sich der neue Studiengang für die StudentInnen im Hauptstudium weiterhin gestaltet, bleibt abzuwarten; im aktuellen Vorlesungsverzeichnis fällt jedoch das vergleichsweise dünne Angebot für die bereits fortgeschrittenen StudentInnen auf.
Ein großes Problem in der ohnehin extrem dezentrierten Hochschullandschaft Berlins ist die Zersplitterung der Studierenden, die Geschlechterforschung belegen. Es gibt kein Institut und keine Bibliothek, wo sie sich treffen und Erfahrungen austauschen könnten, "man kommt sich vor wie ein Einzelkämpfer, es gibt keinerlei institutionelle Zusammenhänge, manchmal hat man den Eindruck, das Fach existiere gar nicht", formuliert ein Student seine nun zweijährige Erfahrung. Deshalb empfehlen die Berlinerinnen all jenen, die an anderen Universitäten einen ähnlichen Studiengang planen, für Einrichtungen und Räumlichkeiten zu sorgen, wo die Studierenden kommunizieren können und die ihnen "eine Heimat geben", wie von Braun formuliert. Dies und die frühzeitige Orientierung der Erstsemester ist nach ihrer Erfahrung unabdingbar, wenn der Weg aus dem "ÂGhetto der Geschlechterforschung" (wie es im Informationsfaltblatt heißt) tatsächlich gelingen und die Studierenden befähigen soll, die herkömmlichen Disziplinen kritisch zu hinterfragen.
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