Gesundheitspolitische Kabbalistik

Modellkalkulationen Es wird gerechnet wie der Teufel, doch wer bei der Kassenschlacht verlieren wird, ist umstritten

Wer regieren will, muss rechnen können. Das wussten schon die Verwaltungsbeamten der Neuzeit. Deshalb unterwarfen sie die Schatztruhen ihrer Fürsten einer strengeren Finanzkontrolle und erfanden die Kameralwissenschaft, eine neue Form staatlicher Verwaltung. Nicht nur an Kameralistik, sondern auch an Kabbalistik erinnert das, was sich momentan im Hinblick auf die geplante Gesundheitsreform abspielt: Es wird gerechnet wie der Teufel, aber nicht auf der Basis betriebswirtschaftlicher Ist-Daten, sondern auf Grundlage von prospektiven Modellen und Planrechnungen. Was am Ende herauskommt, ist manchmal allerdings auch geeignet, die Öffentlichkeit zu verwirren. Das ist, wenn ein System durch ein anderes ersetzt werden soll - in diesem Fall das alte Kassenverwaltungssystem durch den Gesundheitsfonds - auch gar nicht anders möglich: Kein Mensch kann ganz genau sagen, welche Auswirkungen Kopfgelder und Prämien auf das Gesundheitsmanagement haben werden.

Deshalb wurde das zirkulierende Arbeitspapier, in dem die von der Koalition ausgehandelten "Eckpunkte" von Fachbeamten in eine erste Form gegossen wurden, nach der Sommerpause erst einmal allseits rechnerisch zerpflückt. Der Gesundheitsfonds stößt nicht nur bei den Vorständen der gesetzlichen Krankenkassen auf wenig Gegenliebe, mittlerweile machen auch Gewerkschaften und Arbeitgeber einträchtig dagegen mobil. Das neue Geldsammelinstitut löse, so DGB und BDA, kein einziges der anstehenden Probleme im Gesundheitssystem, sondern sei geeignet, die Beitragsdynamik zu forcieren. Tatsächlich rechnen Experten beim Start des Fonds mit bis zu 16 Beitragspunkten (heute 14,2 Prozent des Bruttolohnes), wenn die Kassen nicht sofort mit einer zusätzlichen Prämie starten wollen.

Auch an dieser Zusatzprämie entzündet sich mathematischer Eifer. Dorothee Schawo und Werner Schneider haben aus den Daten der AOK errechnet, dass schon bei einem Zusatzbeitrag in Höhe von zehn Euro monatlich 61 Prozent der AOK-Mitglieder unter die Härtefallregelung fallen würden; bei 15 Euro sind schon 96 Prozent und bei 20 Euro wären alle AOK-Versicherten betroffen. Die Härtefallregelung sieht vor, dass die neue Prämie nicht mehr als ein Prozent des beitragspflichtigen Einkommens betragen darf, Kassen mit ärmeren Versicherten also absehbar mit Beitragsverlusten im Umfang von 30 bis 50 Prozent kalkulieren müssten. Das fördere nicht den gewollten Wettbewerb unter den Krankenkassen, sondern, wie es in einem Brief der AOK an Ministerin Schmidt heißt, einen noch "stärkeren Selektionswettbewerb um einkommensstarke Mitglieder als bisher".

Aber auch die Privatkassen und ihre politische Lobby sind unzufrieden mit der Gesundheitsministerin. Schon Ende August ging die PKV auf die Barrikaden, weil im Entwurf aus dem Ministerium der Wechsel zwischen gesetzlicher und privater Kasse beziehungsweise der Wechsel innerhalb der Privatversicherungen erheblich erleichtert wird. Jeder Mann und jede Frau soll sich künftig auch - im Rahmen einer Basisprämie und im Umfang der Leistungen der GKV - bei Privaten versichern können. Risikozuschläge für bestimmte Krankheiten oder Alter entfielen dann, und die Privaten dürften auch niemanden mehr abweisen. Um künftig auch zwischen Privatkassen wechseln zu können, sieht der Entwurf vor, dass die angesparten Altersrückstellungen zum nächsten Versicherer mitgenommen werden können. Ein finanzieller Ausgleich soll wie bei den Gesetzlichen auch bei den Privaten die unterschiedlichen Risikostrukturen auffangen.

Damit sei das "Aus" der Privatversicherten eingeläutet, scholl es aus den oberen Etagen der Privatversicherer. Die Regelungen führten zu Prämienanstiegen von bis zu 37 Prozent und neue Verträge würden damit, so ließ PKV-Verbandschef Volker Leienbach vernehmen, "schrecklich unattraktiv". Unterstützung findet er erwartungsgemäß bei der Union, insbesondere bei Fraktionsvize Wolfgang Zöller und der gesundheitspolitischen Sprecherin Annette Widmann-Mauz. Sie plädiert nicht nur für den Bestandsschutz der PKVen, sondern hält darüber hinaus neuerdings auch die Härtefallregelung für die Zusatzprämie für "verzichtbar". Auch Angela Merkel will die PKV nicht "drangsaliert" und "stranguliert" sehen, doch nach ihrer Rückkehr aus dem Urlaub stellte sie sich gleichzeitig ostentativ hinter ihre Ministerin.

Wie bei der GKV handelt es sich auch bei der PKV um vorausschauende Modellrechnungen, deren Ergebnis immer von den Ausgangsdaten abhängen. Gesundheitsökonom Karl Lauterbach (SPD), kein Freund der Privatversicherer, zum Beispiel kommt zu völlig anderen Ergebnissen und sieht die Privaten "enorm gestärkt" aus der Kassenschlacht hervorgehen. Der Basistarif, den die Privaten künftig jungen Leuten mit einem Einkommen von über 4.000 Euro anbieten könnten, sei viel attraktiver als der Tarif bei den gesetzlichen Kassen. Was bei letzteren 700 Euro kosten wird, können sich die Jüngeren bei den Privaten für schlappe 250 Euro einkaufen. Es rächt sich nun auch, dass sich die Koalition nicht dazu hatte durchringen können, andere Einnahmen wie Mieten und Zinsen in die Beitragspflicht einzubeziehen.

Der Rechenvorteil der GKV liegt derzeit darin, dass sie auf ein breites und gesichertes Datenmaterial für ihre Modellrechnungen zurückgreifen kann, während die Kalkulationen der PKV von allen möglichen Marktfaktoren abhängen. Doch in der letzten Zeit lässt sich bei den Vertretern der GKV auch ein gewisses Einlenken feststellen. Man wolle, so ließ AOK-Chef Hans-Jürgen Ahrens kürzlich vor Pressevertretern verlauten, gar keine "Fundamentalopposition", sondern "die Hand zur Diskussion reichen". Am geforderten Wettbewerb finden mittlerweile auch die (großen) Kassen Geschmack und machen, allen voran die Bundes-AOK, instruktive Vorschläge. Sie schlägt nach dem Vorbild der integrierten Versorgung nun auch "sektorale Selektivverträge" vor.

Gemeint ist damit, dass die Kassen mit bestimmten Leistungsanbietern - Ärzten, Apotheken, Sanitäts- oder gar Krankenhäusern - eigene Verträge abschließen und diese direkt von der Kasse bezahlt werden. Allerdings sollte, so das Gutachten der Ökonomen um Jürgen Wasem, die Krankenkassen dann nicht mehr wie bislang das, was in den Einzelvertrag geht, vom kassenärztlichen Budget abgezogen werden, sondern das, was für einen bestimmten Leistungsumfang an die KVen abgeführt wird. Der ökonomische Hintersinn ist, dass die mögliche Ertragsdifferenz beim Abschluss eines Einzelvertrags "budgetbereinigt" der Kasse zugute käme.

Kassenwettbewerb also ja, aber nur in Zusammenhang mit Vertragswettbewerb. Völlig verfehlt, so Ahrens, sei deshalb die "Kollektivierung des Leistungsgeschehens" bei einem Spitzenverband, wie ihn Ulla Schmidt wünscht. Der Kampf um den "Sicherstellungsauftrag" ist jedoch eine politische Auseinandersetzung; während Ökonomen wie Wasem für "Mengensicherungen" und "Effizienz" streiten, zielen die Kassenvorstände auf die Sicherung ihres politischen Gestaltungseinflusses. Rechenmodelle sind dabei nur ein probates Mittel.


Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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