Gesundheitssystem: Ein knallharter Ökonom zeigt sein Gesicht
Finanzkrise Auf die Finanzkrise im Gesundheitssystem reagiert Karl Lauterbach wie ein knallharter Ökonom. Es drohen drastische Kürzung und Kahlschlag bei Kliniken. Für Versicherte steigt der Zusatzbeitrag
Wenn immer mehr Kliniken schließen, müssen immer mehr Rettungs-Hubschrauber immer weitere Strecken fliegen
Foto: Odd Andersen/AFP/Getty Images
Dieses Jahr musste die Gesundheitsbranche ohne ihren Hauptakteur auskommen. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) konnte sich auf dem Hauptstadtkongress Gesundheit, der alljährlichen „Leitveranstaltung“, wie ihn die Organisatoren gerne nennen, nur per Videobotschaft zuschalten. In Magdeburg tagten zur gleichen Zeit die Gesundheitsminister der Länder (GMK), um sich gegen die „schwere Corona-Welle“ (Lauterbach) im Herbst zu rüsten. Sensationelles gab es nicht, höchstens das Zurückrudern in Sachen kostenfreie Bürgertests, die der Minister wegen der hohen Kosten Ende Juni einstellen wollte. Nun will er bei Finanzminister Christian Lindner (FDP) doch noch etwas Geld dafür lockermachen.
Die Fachrunde hat Lauterbach jedenfalls davor b
s Geld dafür lockermachen. Die Fachrunde hat Lauterbach jedenfalls davor bewahrt, in Präsenz Rede und Antwort zu stehen, auch in unangenehmen Angelegenheiten. Besonders misslich ist für Lauterbach derzeit das klaffende Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Darüber äußerte er sich per Video eher schmallippig mit der Ankündigung eines „Maßnahmenpakets“, das er inhaltlich jedoch nicht ausleuchtete. Aus der Deckung kam er erst eine Woche später. Und wie! Unter Hinweis auf seinen Vorgänger Jens Spahn (CDU), der ihm das Defizit eingebrockt habe, zeigt ein knallharter Ökonom sein Gesicht.Lauterbach will den Zusatzbeitrag, den die Versicherten und die Arbeitgeber je zur Hälfte tragen, um 0,3 Prozent erhöhen. Außerdem soll der Gesundheitsfond ein Milliardendarlehen aufnehmen, das von der Versichertengemeinschaft zurückbezahlt werden soll. Die Ärzteschaft wird sich auf Honorareinbußen einstellen müssen, weil Regelungen des Terminservicegesetzes zurückgenommen werden. Und es kommt offenbar auch zu Leistungseinschränkungen, die Lauterbach immer ausgeschlossen hat. Die Ärzte schäumen, die Kassen sind sauer, weil Lauterbach noch einmal Hand anlegt an ihre ohnehin nur noch schmalen Rücklagen.Mit Corona hat das Finanzloch wenig zu tunDas dahinterstehende Finanzszenario konnte man sich auf dem Kongress erklären lassen. Um den Kassen Planungssicherheit für ihren Haushalt im Herbst zu geben, muss noch vor der parlamentarischen Sommerpause entschieden werden, wie viel Geld der Bund zusätzlich zum normalen Bundeszuschuss von 14 Milliarden Euro lockermachen will, um die Krankenkassen zu stützen. Der reguläre Obolus deckt einen Teil der versicherungsfremden Leistungen ab – von der beitragsfreien Mitversicherung von Familienangehörigen über das Krankengeld bis hin zu Mutterschafts- und Elterngeld oder Reha-Leistungen. Bereits 2020 war jedoch ein Sonderzuschuss von 3,5 Milliarden Euro erforderlich, der im Jahr darauf auf fünf Milliarden stieg. Im laufenden Jahr ist ein bereits beschlossener ergänzender Beitrag des Bundes von satten 14,5 Milliarden Euro fällig, weil den 233 Milliarden Euro Einnahmen des Gesundheitsfonds 284 Milliarden Ausgaben gegenüberstehen. Doch statt der fünf Milliarden für 2023 bewilligt Finanzminister Lindner offenbar nur zwei Milliarden. Zur Inflation kommt somit eine weitere hohe Belastung auf die Beschäftigten zu.Und wie geht es weiter mit der GKV? Das IGES Institut schätzt, dass 2025 sogar 27,5 Milliarden Euro fehlen werden. Dieser „Adhocismus“, so Gesundheitsökonom Jürgen Wasem auf dem Kongress, bei dem die Politik kurzfristig über die Kassenlage entscheidet, müsse beendet werden. Nicht zuletzt, weil er das Selbstverwaltungsprinzip der Sozialversicherungen unterhöhlt. Die sogenannte primäre Unterdeckung, rechnete Wasem vor, läuft seit 2019 kontinuierlich immer mehr aus dem Ruder, und das habe wenig mit Corona zu tun. Für die Ausgleichszahlungen an Krankenhäuser, die Finanzierung der Impf- und Testkampagne und anderes hat der Bund allein 2020 noch einmal 67,9 Milliarden Euro ausgegeben. Einig sind sich die Fachleute darin, dass es sich um ein strukturelles Problem handelt, das in den kommenden Jahren noch dramatischer werden wird, weil die demografische Entwicklung und damit höhere Pro-Kopf-Ausgaben langfristige Treiber sind. Für diesen Sektor hat Lauterbach eine Kommission ins Leben gerufen, die Vorschläge für Klinikschließungen machen soll. Dass ausgerechnet die Verantwortlichen für das jährliche Krankenhaus-Rating, Reinhard Busse und Boris Augurzky, in diesem Gremium vertreten sind, lässt für die von Schließung bedrohten Einrichtungen wenig Gutes erwarten. Das „Bündnis Klinikrettung“ listet 61 Kliniken auf, die seit 2020 bundesweit aufgegeben wurden oder akut bedroht sind. Anlässlich der GMK hat es den nordrhein-westfälischen Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU), der sich dabei besonders hervorgetan hat, mit der „goldenen Abrissbirne“ bedacht. Die schwierige Situation vieler Kliniken ist darüber hinaus politisch hausgemacht durch die Einführung des Fallpauschalen-Systems (DRG), das zu einem „beinahe ruinösen Verdrängungswettbewerb“ geführt habe, wie die Vorsitzende des Marburger Bundes, Susanne Johna, auf dem Europäischen Gesundheitskongress vor zwei Jahren kritisierte. Fehlanreize (lukrative, aber nicht notwendige Operationen), Unterversorgung in weniger gewinnträchtigen Bereichen, Bindung von Personal und die berühmte „blutige Entlassung“ seien die Folge. Das DRG-System, das einmal eingeführt worden war, um Kosten zu sparen, hat sich eher als Kostentreiber erwiesen. Ebbe in der Kasse Zwei weitere strukturelle Probleme, die die Kassen in den vergangenen Jahren in Schieflage gebracht haben, benannte Kai Senf, Geschäftsführer des AOK-Bundesverbands. Zum einen trägt der Bund nur einen Bruchteil zu den Beiträgen für ALG-II-Empfänger bei. Die seit fast 15 Jahren überwiesene Pauschale deckt gerade einmal ein Drittel des fälligen Beitrags, und den Kassen entgehen damit mindestens zehn Milliarden Euro. Eine zweite Baustelle sind die oben genannten, sich jährlich ausdehnenden versicherungsfremden Leistungen. Das IGES veranschlagt sie auf 41 Milliarden Euro, das ist fast ein Sechstel des GKV-Ausgabenvolumens. Mit 14,5 Milliarden Euro Bundeszuschuss steuert der Bund auch an dieser Stelle viel zu wenig bei. So gesehen könnte der inkriminierte Sonderzuschuss also umgewandelt werden in einen regulären. Das hätte Lauterbach seinem Kollegen „adhoc“ einmal auseinandersetzen können.Strukturreformen dürften, so der sichtlich etwas ratlose Wasem, nicht nur „Effizienzgesichtspunkten“ folgen. Wenn man Kliniken abbaue, benötige man erst mal mehr Hubschrauber, das koste erst mal Geld. Wer war es eigentlich, der Karl Lauterbach zum gesundheitspolitischen Hoffnungsträger aufgerufen hat? „Stückwerk“, nennt es seine sozialdemokratische Parteifreundin Carola Reimann, Chefin der Bundes-AOK, was dieser „adhoc“ fabriziert hat. Der Vizepräsident der Bundesärztekammer, Günther Matheis, war es, der beim Branchenkongress auf das Kernproblem des Gesundheitssystems verwies, auf Fremdkapitalgeber nämlich, die die Situation ausnutzten, um Gesundheit in Rendite umzuwandeln. Geld, das nicht ins System zurückfließt. Aber da geht Lauterbach nicht ran.