Getrennt zusammen leben

Freitag-Robinson In der nordmährischen Grenzregion gehörten Deutsche, Polen und Böhmen bis 1918 zur Habsburgmonarchie. Die großen Kriege haben sie voneinander entfernt. In der EU rücken sie nun wieder zusammen

KozŠary lockt das Firmenschild unter dem schmalen Hausgiebel, und darunter, auf polnisch und tschechisch: Teppiche, Haushaltswaren, Falttüren ... Tatsächlich stehen neben der geöffneten Ladentür Falttüren aller Art aufgereiht, neben Vorhangstangen und einer stattlichen Anzahl von Kinderwagen. Das Lädchen duckt sich mit seinesgleichen am Flussufer, gleich nebenan liegt die Maschinenfabrik der Stadt, reger Betrieb auf dem Gehsteig. Aber was brauchen 37.000 Einwohner so viele Falttüren? "Die sind nicht für uns", klärt der Stadtführer auf, "die Leute kommen von drüben, von der anderen Seite, um hier einzukaufen."

"Von drüben, von der anderen Seite" klingt in deutschen Ohren vertraut. "Von drüben" kamen nach dem Mauerfall die Ostberliner zum Shoppen in den Westen der Stadt, "von drüben" kamen die Westler, um auf ihre Art zu hamstern im Osten. Mit Berlin teilt diese zwischen dem oberschlesischen Industriegebiet um Kattowitz und Galizien gelegene kleine Stadt das Schicksal einer langen Teilung - nur, dass "das, was zusammengehört", noch nicht recht zusammengefunden hat. Denn Cieszyn und CŠesky´ TeŠsŠín - oder einfach Teschen, wie die Gesamtgemeinde bis nach dem Ersten Weltkrieg noch hieß - sind wie Frankfurt/Slubice oder Görlitz/Zgorzelec durch einen Grenzfluss getrennt, ihre staatsrechtliche Scheidung unter Tränen erfolgte allerdings schon 1920.

In der unendlich verwickelten Geschichte der Religionskriege und der schlesischen Teilungen spielte Teschen schon immer eine besondere Rolle. 1653 übernahmen dort die Habsburger das Regiment, und mit ihnen zog die Gegenreformation ein. Immerhin trotzte der Schwedenkönig Karl XII. den Österreichern einige Zugeständnisse für die evangelischen Christen ab, und so wurde eine der sieben so genannten Gnadenkirchen, die Jesuskirche, 1709 in Teschen erbaut. Heute ist sie mit 7.000 der insgesamt 80.000 polnischen Protestanten die größte evangelische Gemeinde in Polen.

Nachdem Friedrich der Große 1742 Schlesien überfallen hatte, verblieb nur noch ein kleiner Teil des Landes mit den Zentren Troppau und Teschen bei Österreich. Die Karten waren sowohl ethnisch als auch religiös schon bunt gemischt, und sie sollten sich in den folgenden 150 Jahren noch weiter verwirren. Während die Teschener Polen, seit der Revolution von 1848/49 durchaus national gestimmt, eher protestantisch waren, hielt die deutsche Sprachmehrheit zu Rom. Im Ersten Weltkrieg kämpften die Polen noch auf der Seite Österreichs. Doch nach dem Zusammenbruch der Habsburgmonarchie machten sich Polen und die neue Tschechoslowakische Republik dieses Filetstückchen der schlesischen Beute streitig, bis auf der Konferenz von Spa diplomatisch entschieden wurde. Seither gehört der östliche, etwas größere Teil Teschens zu Polen, der westliche zum heutigen Tschechien.


An normalen Wochenenden fallen mittlerweile zigtausend Tschechen und Slowaken in Cieszyn ein, um sich nicht nur mit besagten Falttüren, sondern auch mit Lebensmitteln und technischem Gerät zu versorgen. Auf der Friedens- und auf der Freundschaftsbrücke, die sich über die Olsa spannen, herrscht nach dem Beitritt Polens und Tschechiens zum Schengener Abkommen grenzenloser Verkehr. Denn auch jenseits des Flüsschens, im tschechischen Teil der Stadt CŠesky´ TeŠsŠín, lohnt sich der Besuch: Dienstleistungen sind dort billiger zu haben, und der Preis für ein böhmisches Essen mit einem gutem Pilsener zaubert Besuchern - zumindest, wenn sie aus Deutschland oder Österreich stammen - ein Glückslächeln aufs Gesicht. Noch nivelliert kein Euro den Austausch, in den Wechselstuben geben Zloty und Krone den Ton an. Um die 21 Millionen Touristen, die diesen 810 gegründeten Flecken mit der gut erhaltenen mittelalterlichen Stadtanlage passieren, buhlt man beiderseits der Olsa. In Cieszyn allerdings mit einem strategischen Vorteil: Das meiste, was polnische Piasten und Habsburger hier zurückgelassen haben, von der ältesten romanischen Kirche Schlesiens bis hin zum österreichischen Jagdschloss auf dem Schlossberg, liegt auf der polnischen Seite. Die Donaumonarchie ist heute noch überall präsent: Im Café Muzeum zum Beispiel bedienen Kellnerinnen in Wiener Tradition mit weißen Häubchen, überwacht von einer Büste des letzten Kaisers.

Dass Cieszyn ein bisschen mehr auf die touristische Waage bringt, weiß auch Bogdan Ficek, der, wie er betont, als 134. Bürgermeister im alten Rathaus der Stadt residiert und ganz die Würde seines Amtes ausstrahlt. "Liebe Freunde", begrüßt er Besucher aus Deutschland und plaudert in ihrer Sprache aus der Stadtgeschichte. Mit der Historie im Rücken, im ehrwürdigen Sitzungssaal mit den 39 Adels- und Familienwappen, schwärmt er vom melting pot Teschen, das so oft die Seiten wechseln musste, und in dem es Polen mit Deutschen, Deutsche mit Ungarn, Ungarn mit Böhmen und Böhmen mit Juden und alle miteinander irgendwie ausgehalten haben. Irgendwie. Beim letzten Hochwasser der Olsa, hatte der Stadtführer kurz zuvor noch naserümpfend erzählt, hätten "die tschechischen Feiglinge einfach Reißaus" genommen ...

"Normalisierung", nennt Ficek, was sich seit 1990 verändert in der Stadt, zunächst im Rahmen des kleinen Grenzverkehrs, dann über die offiziell-politischen Kanäle. In den Rathäusern, deutet er an, hielt sich das alte ererbte und das neue brüderlich-sozialistische Misstrauen sehr lange, denn "in der kommunistischen Ära haben wir mit den Tschechen überhaupt nicht kooperiert". Erst die EU scheint nun als Partnerschaftsbörse zu fungieren. Man unterstützt sich gemäßigt-pragmatisch, hat ähnliche Probleme: die Strukturschwäche durch den Verlust des Bergbaus, die abwandernde Jugend, die grenzüberschreitende Kriminalität. "Als die Grenze fiel, hatten wir Angst vor den Zigeunern und Bettlern von drüben, und die Tschechen fürchteten unsere Taschendiebe. Nach drei Monaten haben wir aber gemerkt, dass auch unsere Kriminellen Patrioten sind", erzählt Ficek launig. Zusammengebracht haben die Stadt dann nicht die Kleinkriminellen, sondern das große Geld, genauer gesagt, die EU-Töpfe. "Wir müssen zusammen arbeiten", so der Stadtherr, das sei "reine Notwendigkeit, denn alleine packt hier niemand die hohen bürokratischen Ansprüche der EU." "Ideal", setzt er hinzu, sei die Kooperation aber noch nicht.

Ein gemeinsames Nahverkehrs- oder Kommunikationsnetz wie in Berlin liegt in Teschen in weiter Ferne. "Was in 80 Jahren zerstört wurde, braucht 20 bis 30 Jahre, um wieder aufgebaut zu werden", ist sich Bogdan Ficek mit seinem tschechischen Amtskollegen Milan Pecka einig. Ihre Rathäuser liegen kaum zwei Kilometer voneinander entfernt, und zu Fuß oder mit dem Auto kommt man heute mühelos über eine der beiden Brücken ins benachbarte TeŠsŠín. Es existiert auch eine Bahnverbindung, aber weitere gemeinsame Einrichtungen gibt es nicht, kein Telefonnetz und keine gemeinsame Stromversorgung. In CŠesky´ TeŠsŠín überraschen zunächst die zweisprachigen Hinweisschilder. Bürgermeister Ficek mag die Cieszyner Multikulturalität rühmen, gelebt wird sie eher in der Nachbarstadt, denn unter den 27.000 Einwohnern gibt es neben Slowaken, Ukrainern und Deutschen von jeher auch eine starke polnische Minderheit.

Pecka, der eigentlich stellvertretender Bürgermeister ist, arbeitet in dem erst 1928 errichteten Rathaus, außen typisch tschechische Neorenaissance, innen durch und durch sachlich. Im Foyer begegnet einem nicht wie in Cieszyn "Seine Majestät Kaiser Franz Josef I.", dessen Besuch 1880 in schwarzem Marmor verewigt ist, und überhaupt erinnert nichts an die hehre habsburgische Vergangenheit; hier beginnt die Zeitrechnung offenbar erst mit der Stadtgründung 1920. Wo in Cieszyn die opulente Eichentäfelung einschüchterte und man sich auf unbequemem Gestühl quälte, fühlt man sich im TeŠsŠíner Sitzungszimmer eher wie in einer praktisch gestimmten Schule - nur dass Milan Pecka, klein, rund und böhmisch-herzlich mit vielen Verbeugungen, geradezu aus einem Roman von HasŠek gepurzelt zu sein scheint.

Die Erinnerungspolitik könnte auch zum gordischen Knoten werden, den die Teschener in den nächsten zwei Jahren durchzuschlagen haben. Natürlich ist man auf beiden Seiten der Olsa stolz auf das 1200-jährige Jubiläum 2010, und schon das gemeinsame Stadtmarketing wird nicht zulassen, dass die beiderseitigen Empfindlichkeiten gepflegt werden. Doch 2010 jährt sich eben auch zum 90. Mal die Gründung des tschechischen Teschens, und das ist für die Polen auf der anderen Seite nun überhaupt kein Grund zum Feiern. Dann, so Bürgermeister Pecka, wird sich herausstellen, ob Teschen "wirklich eine Stadt" wird.


Eugenia Dobrowolska, 1931 in Teschen geboren, erinnert sich noch an die Zeit, als in Teschen nicht nur polnisch oder tschechisch gesprochen wurde, sondern die Stadt auf beiden Seiten des Flusses noch eine deutsche Sprachinsel war. Ihre Mutter, erzählt sie, habe dem Kaiser sogar zugewinkt, als der anlässlich der Kaiser-Manöver 1906 Teschen besuchte, "stellt euch das vor!" Dobrowolska, die mit ihrem Herkunftsnamen Majer heißt, ist eine der wenigen Deutschstämmigen, die heute noch in der Gegend wohnen und von den Verwerfungen, die die Nazis und der Krieg in diesen Landstrich gebracht haben, berichten kann. Als die Sechsjährige 1937/38 eingeschult werden sollte, änderte sich gerade die polnische Schulpolitik, "da wollten die Polen keine deutschen Klassen mehr bilden". Ursprünglich sollte Eugenia dann auf die deutsche Schule in den tschechischen Teil gehen, der Vater, ein Kaufmann, war entschieden dagegen und setzte durch, dass seine Tochter polnisch lernt. Also besuchte Eugenia die polnische Schule - ein Glücksfall, weil ihr die Sprache nach dem Krieg geholfen hat, in Teschen zu überleben.

Heute lebt Eugenia Dobrowolska - oder "Jenny, wie sie genannt werden will, obwohl das nicht recht zu ihrem grünen Trachtenhütchen passen will - in Gleiwitz und ist Vorsitzende des dortigen Ortsverbandes für die Deutsche Minderheit. Wenn die ungemein lebhafte 77-Jährige mit den ausgreifenden Gesten und dem rollenden oberschlesischen Dialekt von der "no so faden" polnischen Landratstochter, die bei der "ordentlich angezogenen" Eugenia in der Bank sitzen sollte, um Deutsch zu lernen, erzählt oder sich in die Hexe Babbiana, die sie im Schultheater einst gespielt hat, verwandelt, ahnt man, dass die Lehrerin, die sie nach vielen Umwegen geworden ist, lieber Schauspielerin oder Tänzerin hätte werden wollen.

Doch es kam anders: Ein Jahr nach ihrer Einschulung marschierte die Wehrmacht in Teschen ein. Die Deutschen vereinigten die beiden Stadthälften, polnischer Unterricht und Gottesdienst wurden verboten, und Eugenia wechselte wieder auf die deutsche Schule, mittlerweile zweisprachig und "sehr frech". Sie besaß eine jüdische Freundin, "die sie viel interessanter fand" als die Landratstochter, auch die Familie hatte Kontakt mit Juden. Doch als "Volksdeutsche" deklariert, mit dem "blauen Ausweis" ausgestattet und der Vater bei der deutschen Luftwaffe, wurde es für die Familie gefährlich, mit jüdischen Mitbürgern zu verkehren. Eugenias Großmutter saß deshalb sogar kurze Zeit im Gefängnis. Von den 2.800 Juden, die 1938 in Teschen wohnten, wurden die meisten deportiert, ein Teil wanderte rechtzeitig aus, 100 kehrten nach dem Krieg zurück. Heute lebt nur noch eine Handvoll im tschechischen Teil der Stadt. Der beklagenswerte Zustand des alten Jüdischen Friedhofs in Cieszyn erinnert an den Exodus der überlebenden polnischen Juden in den fünfziger Jahren.

Nach dem Krieg kehrten sich die Verhältnisse um, gegen die "Volksdeutschen": Die Russen, die am 1. Mai 1945 nach Teschen kamen, rückten zwar schnell wieder ab, doch die ihnen folgende polnische Administration zog die Deutschen zur Zwangsarbeit ein. Eugenias Mutter musste schwer für einen Ofensetzer arbeiten, sie selbst durfte nicht aufs Gymnasium gehen. Im Sommer 1945 wurde die Familie dann von der polnischen Sicherheitspolizei aufgefordert, zu packen und sich am Bahnhof einzufinden. Bei der Klassifizierung benutzten Polen und Tschechen nach dem Krieg dieselben Volkslisten, die die Nazis angelegt hatten: Wer als Reichsdeutscher oder als Volksdeutscher galt, hatte das Land sofort zu verlassen, die von den Deutschen in der Kategorie 3 oder 4 geführten "bedingt national Zuverlässigen" wurden geduldet.

Die Aussiedlung der Dobrowolskas endete indessen schon am Teschener Bahnhof. Dort stand der Zug bereit fürs Internierungslager, es gab aber keine Lokomotive. Eugenias Polnischkenntnissen und ihrer Frechheit, die sie einfach ins Rathaus marschieren und den Hausschlüssel zurückfordern ließ, war es zu verdanken, dass die Familie nicht nur von der Aussiedlung verschont blieb, sondern auch in ihre schon plombierte Wohnung zurückkehren konnte. "Was für ein großes Glück", sagt Eugenia Dobrowolska emphatisch, "dass ich nie betteln und stehlen brauchte und nie in meinem Leben hungern musste."


Solches Glück wurde den meisten "Volksdeutschen" nach dem Krieg nicht zuteil. War Teschen in russischen Augen schlicht "Pollackei", wurde das gesamte westliche, das Troppauer Schlesien als deutsches Gebiet betrachtet. In dem nach 1945 wieder an die Tschechoslowakei gefallenen Grenzgebiet ("Sudetenland") wütete zunächst eine ungeplante, "wilde" und nach Inkrafttreten der so genannten BenesŠ-Dekrete die organisierte Enteignung und Aussiedlung der deutschstämmigen (und übrigens auch der ungarischen) Bevölkerung. Seither fordern die Vertriebenenverbände Entschädigung und symbolische Wiedergutmachung. Die tschechische Seite pocht aber nach wie vor auf das von Hitlerdeutschland verursachte Unglück und verschanzt sich hinter den alliierten Entscheidungen des Potsdamer Abkommens; die deutsche Außenpolitik dagegen grätscht zwischen den Rücksichten auf die sudetendeutschen Landsmannschaften und der Anerkennung politischer Realitäten. Die deutsch-tschechische Erklärung von 1997 sollte das jahrzehntelang verminte Feld eigentlich entschärfen, doch die Bewertung der BenesŠ-Dekrete haben nach wie vor politische Sprengkraft. 2002 beschimpfte der tschechische Ministerpräsident MilosŠ Zeman die Sudetendeutschen als "fünfte Kolonne Hitlers" - umgekehrt hat sich bis auf Günther Beckstein, der diese Tradition nun durchbrochen hat, kein bayerischer Ministerpräsident je in Prag sehen lassen.

Von den ehemals 3,2 Millionen Sudetendeutschen durften nur rund 200.000 in der CŠSSR bleiben, entweder, weil sie als Antifaschisten eingestuft wurden oder mit einem tschechischen Partner verheiratet waren. Waren sie als Fachkräfte unentbehrlich, wurden sie auch zum Bleiben gezwungen. So auch Gerta Greipel, die in Jägerndorf (heute Krnov) in der Kanzlei der dortigen Textilfabrik in verantwortlicher Position tätig war, "Buchhaltung und Bilanz und manchmal auch ein Diktat, das fiel damals in so einem Betrieb zusammen". Jägerndorf liegt am Rande des heute nur noch dünn besiedelten Altvatergebirges, einem Teil der Sudeten. Es galt einmal als das "schlesische Manchester", Fabrikruinen zeugen vom einstigen Glanz der Textilindustrie, von der ein einziges Unternehmen überlebt hat. 1945/46 richteten die Behörden drei Internierungslager ein; ein besonders berüchtigtes auf dem Burgberg mit der schönen alten Wallfahrtskirche Zur schmerzensreichen Mutter Gottes mit den sieben Schwertern.

"Wir hatten ein Haus in Jägerndorf", erzählt die 86-jährige Gerta Greipel, die, wie schon Eugenia Dobrowolska, ständig aufspringen will, um ihre Erzählung durch Dokumente zu beweisen. "Das mussten wir 1945 dann ganz plötzlich verlassen und wurden zunächst in einer Schule untergebracht, das war bitter. Die Älteren haben das nur schwer ertragen." Von dort kam die damals 22-Jährige in eines der großen Lager nach Troppau, auf der Jacke ein Abzeichen, das sie als "Feind" auswies. Wenn sie und ihre Schicksalsgenossen durch die Stadt marschierten, durften sie den Bürgersteig nicht benutzen. Von Troppau ging es wieder zurück ins Betriebslager der Jägerndorfer Textilfabrik, 60 bis 70 Leute und Ausgang nur "mit Laufschein". "Es war aber nicht so schlimm", sagt die alte Dame, "der Chef war von hier und kannte uns, und es gab etwas zu essen." So arbeitete Gerta Greipel weiterhin in der Kanzlei. 1947 wurde das Betriebslager schließlich aufgelöst. Im Unterschied zu vielen anderen Deutschen, die zwangsverpflichtet waren, wurde Gerta Greipel später nicht ausgebürgert, und sie ist auch nicht geflohen, sondern blieb in der Stadt. Heiraten durfte sie als "Staatenlose" allerdings erst 1951.

Von den rund 63.000 Einwohnern des Kreises Jägerndorf wurde nach 1945 über die Hälfte vertrieben. Gerta Greipel gehört zu der immer kleiner werdenden Gruppe, die dort geblieben ist und in dem 1991 gegründeten schlesisch-deutschen Heimatverband mitarbeitet. Die hier zusammenkommen, scheinen keine Ressentiments gegenüber ihren tschechischen Landsleuten zu pflegen. Im Haus der deutsch-tschechischen Verständigung, wo sie Unterschlupf gefunden haben, hängen die Präsidenten Köhler, Heinz Fischer und Václav Klaus einträchtig nebeneinander, darunter Trachtenpuppen und ein Computer. Der Verein, der sich weitgehend aus dem deutsch-tschechischen Zukunftsfonds finanziert, unterhält eine deutsche Bücherei und organisiert Sprachkurse.

Horst Westphal ist umtriebiger Sprecher des Vereins, obwohl er gar nicht aus der Gegend stammt. In Stargard geboren und in Rostock aufgewachsen, hat es ihn als "Best-Eisenbahner", wie er ein wenig ironisch erzählt, 1967 nach Jägerndorf verschlagen. "Während eines Kuraufenthalts habe ich hier meine Frau kennen gelernt", so sei er hier geblieben. Inzwischen managt er den Verein und berichtet stolz von der "deutsch-tschechischen Woche", dem alljährlichen Höhepunkt im Vereinsleben, mit der auf kluge Weise die tschechischen Mitbürger einbunden werden. Zwar gebe es in der Grenzregion noch immer Deutschenhasser, die gegen angebliche Rückgabeansprüche mobil machen. Zu Angriffen sei es bisher nie gekommen.

Es mag am hohen Alter der deutschsprachigen Minderheit in Jägerndorf liegen, dass Revanche keine Rolle mehr spielt oder auch an den Versöhnungsgesten der Tschechen: 2007 ließ die Bürgermeisterin der Stadt einen Gedenkstein für die Opfer aus der Internierungszeit errichten. Die Alten haben ihren Frieden mit der Vergangenheit gemacht, es geht ihnen um das Erbe, vor allem um den Erhalt ihrer Sprache und Kultur in der Region, in der inzwischen nur noch 40.000 Deutsche leben. Auch der Verein schrumpft von Jahr zu Jahr, sie sterben aus in der Stadt und damit das, was sie zu überliefern haben. In den fünfziger Jahren war es verboten, öffentlich deutsch zu sprechen. Heute beherrscht aus der Enkelgeneration kaum mehr einer die Sprache.


Gerade die Jüngeren aber sind es, die sich mittlerweile für die Vergangenheit interessieren und für ihre Heimat, wie sie vor dem Krieg einmal war. Manchmal kommen sie in der Schule damit in Berührung, manchmal sind es verwandtschaftliche Bindungen. Die Verletzungen der Älteren liegen für sie weit zurück, und die jungen Tschechen geben sich mit der "besonderen Situation nach 1945" als Erklärungsmuster nicht mehr zufrieden, wenn die Sprache auf die Vertreibung kommt - "Aussiedlung", wie es im offiziellen Sprachgebrauch immer noch heißt.

In Prag etwa hat sich Ende der neunziger Jahre eine Studentengruppe zusammengefunden, die aus den ideologisch verhärteten Fronten zwischen den Mehrheitstschechen, die die Nachkriegsereignisse ignorierten, und der isolierten Gruppe der intellektuellen Mahner ausbrechen wollte. Seither beschäftigt sich die Bürgerinitiative Antikomplex damit, was der Verlust der Tradition im sudetendeutschen Gebiet für die Menschen in Tschechien bedeutet. Unter dem Motto Das verschwundene Sudetenland haben sie in einer Wanderausstellung und einem Buch dokumentiert, wie sich die Vertreibung der Deutschen auf die Struktur der Landschaft ausgewirkt hat. Über 3.000 Dörfer und Städte sind im Grenzgebiet Tschechiens völlig verschwunden, die alte Stadt Duppau zum Beispiel, deren Bewohner ermordet oder vertrieben wurden und die schließlich einem Truppenübungsplatz weichen musste.

Aber auch das, was nicht zerstört wurde, zerfiel. Die Tschechen aus dem Landesinneren und die Minderheiten, die in der verwaisten Grenzregion angesiedelt wurden - neben Slowaken auch Roma und Flüchtlinge aus dem bürgerkrieggeschüttelten Griechenland - waren nicht in der Lage, die verbliebenen Kulturdenkmäler zu erhalten. "Das kann nicht von Menschen gepflegt werden, die dort eigentlich nicht zuhause sind und nichts damit verbinden", sagt MateŠj Spurny´, einer der Initiatoren von Antikomplex. Der junge, in Prag geborene Historiker hat seine Kindheit im Riesengebirge verbracht. Für die betroffene Generation sei es heute zu spät, die Geschichte aufzuarbeiten, doch unter den Jüngeren erkennt er eine immer größere Bereitschaft, sich mit der abgeschnittenen Vergangenheit zu befassen.


In Jeseník (Freiwaldau), nordwestlich von Jägerndorf gelegen und Mittelpunkt eines beliebten Wintersportgebietes, sind es die Aktivisten der Umweltgruppe Brontosaurus, die sich um den Erhalt der Überreste der deutschen Kultur bemühen. Vorwiegend junge Leute aus dem grünen Umfeld sind hier aktiv. Das Jeseníker Domizil der Gruppe erinnert frappierend an die Frühzeit der Alternativbewegung in Deutschland, viele bunte Tücher und gesunder Tee, reichlich Improvisation und viel begeistertes Engagement. Gegründet hat sich die Gruppe vor sieben Jahren, seither hat sie 15 kleinere Denkmäler restauriert. Darunter auch die Quellen des "Wasserdoktors" Vinzenz Prießnitz, an dessen Verdienste Brontosaurus mit einem Lehrpfad erinnert. 10.000 Einwohner von Jeseník sind damals zur Einweihung gekommen. "Wir versuchen", erklärt Tom Hradil, "die örtliche Bevölkerung in unser Projekt einzubinden und das Bewusstsein für die eigene Geschichte zu schärfen."

Im Krieg war Freiwaldau, dessen Bevölkerung "bis zuletzt Hitler ergeben war", wie der Historiker TomasŠ Knopp berichtet, ein Rückzugsgebiet für die Flüchtlinge aus den zerbombten deutschen Städten. 1945 wurden auch hier fünf Sammellager eingerichtet, die sich, wie er sagt, "von den Lagern der Nationalsozialisten nur wenig unterschieden." Es ist sogar ein Fall bekannt, in dem ein aus einem KZ geretteter Jude unmittelbar danach ins Internierungslager wanderte. Vor der Vertreibung lebten in Freiwaldau noch 72.000 Einwohner, heute sind es nur noch 42.000. Hier wie fast überall in Mährisch-Schlesien konnte der Bevölkerungsverlust nicht mehr ausgeglichen werden.

Ob sich aus den Bemühungen von Antikomplex oder Brontosaurus in der tschechischen Grenzregion so etwas wie ein neues schlesisches Regionalbewusstsein entwickelt wie etwa im polnischen Industriegebiet um Kattowitz? An Schlesien erinnert noch vieles im Land: Das Schlesische Theater in Troppau etwa, wo heutzutage natürlich keine schlesischen Stücke mehr gespielt werden, oder die dortige schlesische Universität, die von Studenten aus ganz Tschechien besucht wird. Auch im Schlesischen Schloss der Kunst und Unternehmung in Teschen fiel weniger schlesische Kunst als klassische Moderne in den Blick.

Dan Gawrecki, Historiker und Schlesienkenner an der Troppauer Universität, war in den neunziger Jahren einer derjenigen, die sich bemühten, Schlesien als eigenständigen Landesteil in der tschechischen Verfassung zu verankern. Davon, berichtet er, sei wenig übrig geblieben, auch wenn es durchaus noch "schlesische Heimatgefühle" gäbe. Man müsse das realistisch sehen: "Auch hier steckt sich keine Partei mehr die Schlesien-Fahne auf."

Andererseits scheint aber auch keine Partei in Tschechien mehr mit der "Sudetenkarte" - mit der Angst der Tschechen vor Rückgabeansprüchen - stechen zu können. Die kritische Phase kurz vor dem EU-Beitritt Tschechiens ist überwunden, hört man immer wieder. Keine Horden von Deutschen, die ins Land einfallen, um die schlesischen Häuser ziehen und ihre Rechte daran reklamieren.

"Normalisierung" also nicht nur zwischen dem polnischen und tschechischen Teschen, sondern auch zwischen Deutschen und Böhmen. In Jägerndorf wurde die Wallfahrtskirche auf dem Burgberg restauriert. Die EU finanziert die Wiederherstellung des alten Kreuzweges - wie zur Mahnung an das, was sich die Bewohner hier gegenseitig einmal angetan haben. Am Wochenende werden in Teschen wieder Falttüren über die Olsa geschleppt, Falttüren über offene Grenzen.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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