Gezahlt wird am Ende

Sozialpolitik Die SPD will den Babyboomern die Rente sichern, um Wahlen zu gewinnen
Ausgabe 35/2018

Das Projekt 18, diese für die FDP einst zum Alptraum gewordene Wahlkampfstrategie Guido Westerwelles, scheint für die SPD nun real erreichbar. In neuesten Umfragen klettern die Sozialdemokraten in der Wählergunst um einen Punkt. Doch welchen Kraftakt muss das Spitzenpersonal hinlegen, um wieder in die Achtbarkeitszone zu rücken, und welchen Clinch mit dem Koalitionspartner inszenieren, um so etwas wie sozialdemokratisches Profil zu zeigen! Was die SPD im unappetitlichen Flüchtlingsstreit der Union nicht geschafft hat, soll nun die Rente richten; dieses immer etwas einbruchgefährdete Terrain der Sozialpolitik, auf dem sich schon so mancher Politiker das Genick gebrochen hat, könnte auch für Olaf Scholz und Co. zur riskanten Kür werden.

Ausgerechnet der Finanzminister gab vorige Woche die Parole aus, das Rentenniveau – also das Verhältnis von Durchschnittsverdienst und Standardrente – nicht wie beschlossen bis 2025 stabil bei 48 Prozent zu halten, sondern bis 2040. Es ist der Zeitpunkt, zu dem alle Babyboomer in Rente gegangen sein werden. Das Rententhema setze er auf die Agenda, um „einen Regierungschef wie Präsident Trump in Deutschland“ zu verhindern. Damit grätschte Scholz nicht nur Arbeitsminister Hubertus Heil zwischen die Beine, der derzeit die letzten Feinstriche der im Koalitionsvertrag schon verabredeten Reformen ausführt, sondern auch der Rentenkommission, die den Auftrag hat, eine über das Jahr 2025 hinausgehende Perspektive für die Altersversorgung zu entwickeln.

Scholz prescht vor

Dem zehnköpfigen Ausschuss gehören neben dem ehemaligen CDU-Gesundheitsminister Hermann Gröhe auch Annelie Buntenbach vom DGB und Gert G. Wagner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung an. Der mittlerweile zum Staatssekretär aufgestiegene Rolf Schmachtenberg, einst Friedensaktivist und 1990 unkonventioneller Berater von Brandenburgs Sozialministerin Regine Hildebrandt, wird das Gremium ministeriell begleiten. Eigentlich hätte die SPD die Kommission also beruhigt werkeln lassen können. Doch für sie steht mehr auf dem Spiel als nur ein sozialpolitisches Konzept.

Heil hielt sich am Tag nach Scholz’ „Störfeuer“ noch bedeckt, dafür platzte ein anberaumter Koalitionstermin in Sachen Rente. Im Laufe der Woche verfestigte sich dann der Eindruck, es handele sich um eine konzertierte Parteiaktion, denn in rascher Abfolge sprangen Scholz führende Genossen bei: von SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel bis zu Juso-Chef Kevin Kühnert, der vorschlug, künftig auch Bundestagsabgeordnete in die gesetzliche Rentenversicherung zu integrieren. Schließlich segnete Andrea Nahles die Initiative ab und bekräftigte dies just an dem Tag, an dem eine Spitzenrunde zur Arbeits- und Rentenpolitik zwischen Kanzlerin Angela Merkel, Horst Seehofer und Olaf Scholz ergebnislos vertagt wurde.

Dass die Union sich von Scholz’ Vorpreschen unter Druck gesetzt fühlte, war zu erwarten. Stellvertretend ließ Fraktionschef Volker Kauder wissen, er halte es nicht für gut, der Arbeit der Kommission vorzugreifen, Annegret Kramp-Karrenbauer will darin, wohl nicht zu Unrecht, reine Parteitaktik erkennen. Merkel reagierte auffallend zurückhaltend und warnte lediglich davor, die Bevölkerung zu verunsichern.

Ansonsten überlassen es die Unionspolitiker den Experten, die mit dem Vorschlag verbundenen finanziellen Horrorszenarien auszumalen. Der Freiburger Ökonom Bernd Raffelhüschen, prominenter Verfechter privater Vorsorge, droht jüngeren Arbeitnehmern mit 29 Prozent Rentenbeitragspunkten. Axel Börsch-Supan, selbst Mitglied der Rentenkommission, veranschlagt bis zu 30 Millionen Euro pro Jahr bis 2030 und noch einmal 100 Millionen jährlich bis 2040, sollten Scholz’ Pläne Gesetz werden. Auch die SPD stellt nicht in Abrede, dass das Vorhaben viel Geld kostet. Ihr Haushaltsexperte Johannes Kahrs hat deshalb vorgeschlagen, die notwendige Erhöhung des Bundeszuschusses zur Rentenkasse durch Steuererhöhungen, etwa durch die Realisierung der Finanztransaktionssteuer und die Besteuerung großer Vermögen, zu finanzieren. Theoretisch denkbar ist auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer oder die des Renteneintrittsalters auf 69 oder 70, Letztere ist für die SPD seit Münteferings „Rente mit 67“ allerdings ein No-Go. Fabio De Masi, finanzpolitischer Sprecher der Linken, hat angeregt, den Soli beizubehalten und das österreichische Modell der Rentenversicherung – dort gibt es eine Versicherungspflicht für alle – einzuführen.

Brummende Wirtschaft

Zwischendurch hat SPD-Justizministerin Katarina Barley darauf hingewiesen, dass Prognosen über einen so langen Zeitraum ohnehin schwierig seien. Das bestätigt auch der Vergleich der vor zehn Jahren eruierten katastrophalen Annahmen mit der vergleichsweise guten Situation heute. Steigende weibliche Erwerbsbeteiligung, Zuwanderung und gute Wirtschaftslage lassen die Rentenkassen derzeit (noch) sprudeln. Auch die Geburtenrate hat sich seither wieder erhöht, von 680.000 Geburten 2010 auf 785.000 im vorigen Jahr. Ob das Rentenniveau wie angenommen 2040 überhaupt auf 43 Prozent absinken würde, ist noch gar nicht ausgemacht.

Die von Scholz verabreichte Rentenpille, das zeigt das Ergebnis, das in der Rentenrunde dann Dienstagnacht ausgehandelt worden ist, galt also eher der Rekonvaleszenz seiner SPD. Es bleibt erst einmal bei der „doppelten Haltelinie“: Die Festschreibung des Rentenniveaus auf 48 Prozent und 20 Prozent Beitragspunkten. Zumindest Erwerbsgeminderte und Geringverdiener können 1. Januar 2019 auf eine Verbesserung ihrer Situation hoffen, auch die Mütterrente wird erweitert, wenn der Bundestag, was anzunehmen ist, der Reform zustimmt. Weshalb die SPD einer stärkeren Absenkung der Arbeitslosenversicherung als im Koalitionsvertrag vereinbart zugestimmt hat, bleibt ihr Geheimnis. „Auf der Zugspitze“ wähnt sich, wohl zu Recht, Alexander Dobrindt – die SPD aber wohl eher ein- als „durchgebrochen“, wie Nahles behauptet.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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