Gold-Trip aus der Nadel

Schweinegrippe Nachdem die erste Welle glimpflich ­verlief, geraten das Krisen­management und fragwürdige Expertisen über das H1N1-Virus in die Kritik

Die gute Nachricht für die deutsche Wirtschaft kam vom Rheinisch-Westfälisch­en Institut für Wirtschafts­forschung: Bislang habe die Schweinegrippe Arbeitgebern und Versicherungen kaum Kosten verursacht, der Schaden bewege sich im Promillebereich. Auch fielen die grippebedingten Arbeitsausfälle wegen der Kurzarbeit weniger ins Gewicht als in Boomzeiten, ließ RWI-Experte Boris Augurzky wissen.

Eine frohe Botschaft ist dies nicht nur für die Unternehmen, sondern auch für die Gesamtbevölkerung, die der monatelang an die Wand gemalten Pandemie widerstand und sich bislang physisch und mental als robuster erwiesen hat als es die meisten Experten prophezeiten. Mit rund 200.000 meist harmlos verlaufenen Infektionen und 159 Toten ist die Schweinegrippe in Deutschland ähnlich wie in anderen europäischen Ländern glimpflich verlaufen. Ein vergleichsweise hoher Lebensstandard und einfache Hygienemaßnahmen dürften dazu mehr beigetragen haben als die gesamte Impfaktion. Ob es zu einer zweiten Infektionswelle im Verlauf des Winters kommen wird und welche Formen sie annehmen könnte, weiß bislang niemand zu sagen.

Die Fehleinschätzungen über Krankheitsverlauf und Impfstoffbedarf einerseits und die gesunde Skepsis gegenüber den apokalyptischen Szenarien andererseits bescheren nun allerdings ein teures Folgeproblem: Ein Impfstofflager, das niemand abruft, aber bezahlt werden muss. Als das Grippevirus im Frühjahr 2009 erstmals auftrat, gingen die Experten noch von einer zweimaligen Impfung aus. Um 30 Prozent der Bevölkerung zu immunisieren, bestellte das Gesundheitsministerium, damals noch unter Ulla Schmidt, beim Hersteller GlaxoSmithKline (GSK) 50 Millionen Impfdosen, von denen bis Ende des Jahres 20 Millionen geliefert wurden; der Rest sollte 2010 nachgereicht werden. Da der Impfstoff damals rar und die Konkurrenz unter den zahlungskräftigen Industrieländern groß war, konnten die wenigen Pharmakonzerne, die das begehrte Gut produzierten, die Bedingungen weitgehend diktieren. Die Pandemie-Politik der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nötigte die Regierungen darüber hinaus zum schnellen Handeln, sodass die europäischen Gesundheitsminister im Herbst eher den Impfstoffmangel fürchteten als einen Überfluss.

Teure Folgen

Insofern ist es von heute aus gesehen billig, die miserablen Vertragsbedingungen zu kritisieren. Natürlich hätte das Ministerium beim Abschluss des Geschäfts auf ein Stornierungsrecht bestehen können, sodass die Bestellung an den aktuellen Bedarf hätte angepasst werden können. Auch das deutsche Impfmanagement, das selbst Behandlungswillige so verunsicherte, dass mittlerweile höchstens zehn Prozent der Bundesbürger geimpft sind, hält einer Evaluation kaum stand. Dass die Bundesländer, die auf dem Großteil der 416 Millionen Euro sitzen zu bleiben drohen, mit GSK nun über die Stornierung eines Teils der Bestellung verhandeln, ist im Rahmen der überstürzten Krisenpolitik des vergangenen Jahres immerhin ein Stück weit rationale Schadensbegrenzung. Frankreich bemüht sich derzeit ebenfalls um eine Teilrückgabe der immerhin 94 Millionen georderten Impfdosen; die Schweiz sucht Abnehmer außerhalb Europas und will einen Teil des überflüssigen Impfstoffes sogar kostenlos an Entwicklungsländer verteilen lassen.

Hinter den mehr oder weniger erfolgreich verlaufenden Dealereien mit Impfherstellern und Kunden verschwindet indessen die eigentliche Ursache für den Impfskandal, in dem nicht zuletzt die WHO und ihre Präsidentin Margaret Chan eine problematische Rolle spielen. Mitte Juni, ungefähr zwei Monate, nachdem der Virus erstmals beim Menschen nachgewiesen worden war, löste die WHO die höchste Pandemie-Stufe aus und versetzte die Welt in Alarmzustand. Vorausgegangen war, nach den Erfahrungen mit der Vogelgrippe, eine weitgehend unbemerkt gebliebene Neudefinition der Pandemie-Kriterien: Musste ein Virus bis dahin in mehreren WHO-Staaten viele Todesfälle verursacht haben, um einen Alarm zu rechtfertigen, genügte nun die schnelle Verbreitung des Erregers in nur zwei WHO-Regionen. So wurde eine global gar nicht gefährlich einzustufende Krankheit zum worst case erklärt.

Von Dealern lernen

Die Folge war, dass die Staaten ihre Kata­strophenpläne aus der Schublade zogen und den „Ernstfall“ probten. Weil sich die anlaufende hektische Impfstoffproduktion außerhalb der sonst aufwändigen Prüfungspraxis vollzog, kamen auch Stoffe auf den Markt, die im Schnellverfahren zugelassen worden waren und, weil der Rohstoff rar war, mit Zusatzstoffen gestreckt wurden. Während die Geimpften mit den Nebenwirkungen zu kämpfen hatten, öffnete sich für die Impfhersteller eine unerwartete Gewinnquelle von mehreren Milliarden US-Dollar. Selbst wenn einige Pharmariesen ihre Margen nun durch die Rücknahme von Impfstoff korrigieren müssen, bescherte ihnen die Nadel einen echten Gold-Trip.

Inwieweit diese öffentliche Förderung der Pharmaindustrie außerdem von geneigten Fachleuten, die das Katastrophen­szenario „wissenschaftlich“ absicherten, unterstützt wurde, wird Ende Januar möglicherweise der Europarat zu klären haben. Der Unterausschuss Gesundheit, dem der ehemalige SPD-Gesundheitsexperte Wolfgang Wordarg vorsitzt, will prüfen, ob Fachleute den Herstellern durch Gefälligkeitsexpertisen gezielt Profite zugeschanzt haben. Wodarg erklärt die Schweinegrippe schon jetzt für „einen der größten Medizinskandale des Jahrhunderts“. Viele Menschen seien völlig überflüssig mit unzureichend getesteten Impfstoffen behandelt und gefährdet worden. Erhärtet sich dieser Verdacht, stünde aber auch das Ansehen der Weltgesundheitsorganisation und ihrer Direktorin auf dem Spiel, die vor Jahresfrist noch für ihr bravouröses Management gelobt worden war.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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