Dass eine Sache (oder ein Mensch) erst so richtig geschätzt wird, wenn sie dabei ist, verloren zu gehen (respektive sich zu verabschieden), ist eine Erfahrung, die nicht nur jeden persönlichen Trennungsschmerz begleitet, sondern gelegentlich auch in den politischen Alltag einfließt. Seitdem die gute alte Familie als Gesamtmodell nicht mehr zu taugen scheint, wird sie selbst von denen beschworen, die sie einmal verdammten. Und wo der (christliche) Wertekanon keinen verbindlichen Kitt mehr liefert, muss um Werteunterricht gestritten werden. Momentan steht auch eine lange gewachsene Großstruktur namens Gesetzliche Krankenversicherung vor der neoliberalen Abwicklung - und just bekunden die Bundesbürger in Umfragen nachdrücklich, wie hoch sie das Solidarprinzip der GKV schätzen. Das wäre 1968 (um ein magisches Datum zu nennen), als sich versicherte Arbeiter noch die Krankenscheine einzeln bei der Kasse abholen mussten und unbezahlte Krankenkarenztage wie ein Damoklesschwert über ihnen hingen, wohl niemandem eingefallen. Ganz ähnlich mag es übrigens auch dem ausgemusterten CSU-Sozialexperten Horst Seehofer gehen: So viel herzliches Händedrücken wie gerade wieder auf dem Hauptstadtkongress Gesundheit vergangene Woche hat er in seinen Tagen als Gesundheitsminister sicher nicht empfangen.
Der Instinkt der Leute trügt nicht, denn der Verlust scheint irreversibel. Er wurde auf den Weg gebracht ausgerechnet von der Partei, die sich rühmen darf, einst die Karenztage zugunsten der Lohnfortzahlung abgeschafft und die unterschiedliche Behandlung von Arbeitern und Angestellten aufgehoben zu haben. Am 1. Juli tritt die 3. Stufe des sogenannten Gesundheitsmodernisierungsgesetzes (GMG) in Kraft und mit ihr der definitive Ausstieg der Arbeitgeber aus der solidarischen Gesamtverantwortung, in die sie sich seit über 100 Jahren und über alle Systeme hinweg hatten einbinden lassen.
Ab nächsten Monat müssen die Versicherten erstmals in der Geschichte der Gesetzlichen Krankenversicherung 0,9 Prozent des Beitrags allein aufbringen. Die gleichzeitig verordnete Beitragssenkung von ebenfalls 0,9 Prozent kommt (hälftig) den Arbeitgebern (und Rentenversicherungen) zugute. Diese Entlastung von rund fünf Milliarden Euro wird auf die Versichertengemeinschaft abgewälzt. Bei einem Bruttoeinkommen von 2.500 Euro macht das jährlich zwischen 120 und 160 Euro (je nach Beitragssatz und Monatsgehältern); hinzu kommt für Kinderlose die seit 1. Januar fällige Erhöhung des Pflegeversicherungsbeitrags von 1,7 auf 1,95 Prozent. Da nun die "Beitragsbremse" Lohnnebenkosten außer Kraft gesetzt ist, könnte der "solidarentkernte" Obolus jedoch rasch auf ein paar hundert Euro klettern.
In der medialen Öffentlichkeit werden derzeit vor allem die "Ungerechtigkeiten" der Maßnahme skandalisiert - dass beispielsweise die längst gebisslose Greisin für Zahnersatz zur Kasse gebeten wird oder das Rentnerehepaar für ein Krankengeld, das es nie in Anspruch nehmen wird. Doch einmal abgesehen davon, dass die 0,9 Prozent gar nicht für einzelne Leistungen (Zahnersatz, Krankengeld) fällig werden, wie irrtümlich verlautet, sondern in den Gesamttopf fließen, werden einzelne Gruppen von Beitragszahlern aufeinander gehetzt. Warum auch sollte man untereinander solidarisch sein, wenn es die, für die man malocht oder die Knochen hingehalten hat, nicht sind?
Geschätzt wird eine Sache wie gesagt erst, wenn ihr Verlust in greifbare Nähe rückt. Dann bilden sich auch die großen Koalitionen des rituellen Abschieds. Zu besichtigen waren sie auf besagtem Hauptstadtkongress, unter anderem in Gestalt von Horst Seehofer, der sich - charmant - mit Andrea Nahles (SPD) generationenübergreifend die Gesundheitsbälle zuwarf. Während die eine die "kulturstiftende" Rolle des Sozialstaats in Europa lobte, warb der andere für ein "nicht-neoliberales Gesellschaftsbild", um die Menschen "nicht wieder zu Bittstellern" zu machen. Geplänkel auf verlorenem Posten. Mit Hartz IV im Gepäck wird auch das Zugpferd Bürgerversicherung lahmen. Die auseinander zu nehmen wiederum gefällt Seehofer. Dass er (und Frau Nahles) auch das GMG und den Ausstieg der Arbeitgeber aus der Solidarität mitverantworten, scheinen beide vergessen zu haben.
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