Es war ein Coup. Im November 2013, kaum zwei Monate nach der schmerzhaften grünen Wahlniederlage, reiste Christian Ströbele mit zwei Reportern nach Moskau, um den nach dem Ableben bin Ladens von der US-Regierung am meisten gehassten Mann, Edgar Snowden, zu besuchen. Das konspirative Treffen brachte den grünen Altstar auf jeden Schirm der Welt, für einige Tage war er der gefragteste Interviewpartner. Für die Grünen allerdings war ein Wermutstropfen mit dabei, denn mit ihnen brachte die Aktion kein Mensch in Verbindung, sie wurde dem eigenwilligen politischen Einzelkämpfer zugerechnet. Auf der Habenseite der grünen Partei schlug das Ereignis nicht zu Buche.
Der Fall zeigt indessen symptomatisch, woran die waidwunden Grünen, die nach dem 8,4-Prozent-Debakel erst einmal abgetaucht sind und sich seither von der Linkspartei die Show stehlen lassen, kranken. Der Partei fehlen nach der Abwicklung ihrer alten Führungsgarde Trittin, Roth & Co. erstens die medienaffinen und lokal halbwegs verankerten Aushängeschilder wie Ströbele eines verkörpert. Ihr sind zweitens die kampagnen- und anschlussfähigen Botschaften verloren gegangen, was im Fall Snowden geheißen hätte: Es gibt ein Menschenrecht auf Privatsphäre, und wer es unter Einsatz seines Lebens verteidigt wie der Abtrünnige der NSA, für den muss in einem demokratischen Land das Asylrecht durchgesetzt werden. Und drittens gelingt es den Grünen nicht mehr, derlei Botschaften glaubwürdig an die radikale Herkunftsgeschichte – immerhin geht es um die Partei des Volkszählungsboykotts – anzudocken.
Was also nützen monatelang hinter verschlossenen Türen mühsam ausgehandelte parlamentarische Minderheitenrechte, wenn man schon beim ersten einzuberufenden Untersuchungsausschuss (Edathy-Affäre) reichlich widersprüchlich auftritt und sich die öffentlichen Redezeiten – zumindest in den Medien – von Gregor Gysi abjagen lässt, der einen vorführt wie Schülerpraktikanten im Außenministerium? Was auch damit zu tun hat, dass das Chile von 1973/74, für das man bedingungslos auf der Straße die Reihen schließen konnte, eben nicht die Ukraine von heute ist und Befreiungsbewegungen im dritten Jahrtausend, soweit man Letzteres überhaupt so nennen will, ziemlich kompliziert geworden sind. Analytische Ruhmesblätter hat die grüne Partei in dieser Frage jedenfalls nicht hervorgetrieben.
Die Grünen tun sich aber nicht nur schwer, eine konsistente außenpolitische Perspektive zu vermitteln, sie haben überhaupt Probleme mit dem Erzählen. Mit Geschichten, die davon handeln, woher sie kommen, warum sie da gelandet sind, wo sie heute stehen und wohin sie noch wollen. Welche Brüche und Verwerfungen es bei allen unbestreitbaren Erfolgen gegeben hat. Für wen und was sie stehen.
Kurz: Warum es sie nach über 30 Jahren überhaupt noch geben soll? Nachdem doch so ziemlich alles, was sie einmal aufs Schild gehoben haben – von der Ökologie über die Gleichstellungs- und liberale Einwanderungspolitik bis hin zu basisdemokratischen Partizipationsformen – mehr oder weniger auch in den Wahlprogrammen aller anderen Parteien zu finden ist, egal, wie ernst die das nun damit meinen. Haben sich die Grünen zu Tode gesiegt? Sind sie wie ihre liberale Konkurrenz, die FDP, überflüssig geworden, nachdem auf dem jahrzehntelangen Weg beinharte Systemfragen in flexible Transformationsanliegen transponiert wurden?
Grünes Dekameron
Die „große Erzählung“, das wissen wir seit Jean-François Lyotard, hat abgewirtschaftet so wie die großen ZKs zerfallen sind. Die Sturm-und-Drang-Poeten sind zu Schäferdichtern geworden, während der klassische Anteil der grünen Erzählung von Realpolitikern verwaltet und in ordnungspolitische Fahrwasser gelenkt wird. Oder auch in peinlich seichte Gewässer: Null Promille Alkohol am Steuer, please, lautete die letzte ultimative Losung.
Ach, wie wünschte man dem grünen Personal und seinem Tross, der sich in der Biedermeierstube (sagen wir zum Beispiel: im Freiburger Stadtteil Vauban) eingerichtet hat, ein paar luzide Drogenräusche! Und ein paar verstiegene Visionen für ein grünes Dekameron, zu dem die Heinrich-Böll-Stiftung am vergangenen Wochenende das grüne Spitzenpersonal anstiften wollte. „Wenn die Welt sich rasant verändert“, gab Böll-Mitchef Ralf Fücks einleitend auf den Weg, „wächst das Bedürfnis nach Orientierung“. Oder auch das Bedürfnis, dass irgendwie alles so bleibt, wie es ist. Dafür steht Angela Merkel aber zweifellos besser als Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt.
Die Geschichten, die grüne Spitzenpolitiker zu erzählen haben, sind eigentümlich geschichtsvergessen. Cem Özdemir etwa will in Anknüpfung an seine eigene Biografie eine Republik der Chancengerechtigkeit, ein Land, in dem Herkunft keine Rolle spielt. Und sperrt sich gleichzeitig gegen staatliche Transferleistungen, als ob die Bildungsreform, der er einiges zu verdanken hat, ohne Umverteilungsmaßnahmen aufgegangen wäre, ohne sozialliberal auf den Weg gebrachtes Wohngeld, Schüler-Bafög und vieles mehr. Chancengerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit auseinander dividieren zu wollen, führt geradewegs in die ökolibertäre Falle, die den eigenverantwortlichen Bürger auf den Thron hebt und den Staat einen Beelzebub nennt.
Eine andere Erzählung handelt von der kommenden grünen industriellen Revolution und von Politikern, die sich an die Spitze des (angeblich nicht invasiven) technologischen Fortschritts setzen und glauben machen wollen, es gäbe dabei keine Verlierer. Aber das von Stromtrassen durchpflügte Land, das von Energiemaschinen übersäte Meer stehen ebenso unter Veränderungsdruck wie die Lausitz mit ihren aufgewühlten Braunkohlebrachen. Es wird auch bei der grünen Revolution viele negativ Betroffene geben, die sich ihren Kiez eben nicht bürgerschaftlich nach eigenen Bedürfnissen und Geldbeutel herrichten können, und die auch nicht als erste den Finger heben können, wenn es darum geht, die grünen Oasen, Hinterlassenschaften der zweiten industriellen Revolution, zu besiedeln.
Eine dritte Erzählung sieht die grünen Protagonisten stets auf der Seite der Entrechteten der Welt. Nicht Klientelpolitik, sondern Politik für „die Anderen“ zu machen, für ein anderes, gutes Leben in Einklang von Mensch, Tier und Natur. Aber je diffuser die eigene „Andersheit“ geworden ist, je undeutlicher sich das Subjekt vom begrünten bürgerlichen Feld abhebt und je weniger politische Projektionsfläche für das grüne Projekt nötig ist, desto stärker fremdelt man mit denen, die wirklich anders sind und anders denken als man selbst, ob sie nun im Märkischen Viertel leben, auf dem Majdan undurchsichtig agieren oder auf kleinen Pappbooten übers Mittelmeer treiben und mehr wollen als die ausrangierten Klamotten aus den wohlmeinenden Hamburger Bürgerhaushalten.
Die Sinnkrise der westdeutschen Grünen begann 1989, als die Brüder und Schwestern aus dem Osten nicht nur Freiheit, sondern auch Bananen und, schlimmer noch, Autos begehrten. So richtig hat die damals noch amtierende Gründergeneration den Schock, dass sich das „revolutionäre Subjekt“ in eine falsche Richtung bewegt, nie überwunden. Wahrzunehmen, dass man sich auch selbst bewegt hat, in eine Mitte, die nun ganz offiziell die Option zwischen SPD oder CDU eröffnet, erlaubte das grüne Identitätsdenken lange Zeit nicht. „Wir stehen dazwischen“, gibt Bundestagsabgeordnete Anja Hajduk zu Protokoll.
Und man fragt sich: Ist im engen Dazwischen eigentlich noch Platz für Eigenständiges? Robert Zion, linkes Aushängeschild in NRW, geht mittlerweile öffentlich mit den Thesen des Wirtschaftsliberalen Walter Eucken hausieren, von einer Kerstin Andreae, die die „Freiburger Schule“ mit der akademischen Muttermilch aufgesogen hat, ganz zu schweigen. Die neuen Erzählungen liegen schon in den Schubladen und warten nur darauf, in der Partei mehrheitsfähig gemacht zu werden.
Antwort im Salzstock
Fatale Steuervorschläge und lächerlicher Veggie-Day, lautet die grüne Fehleranalyse zur vermurksten Bundestagswahl. Wenn es denn so einfach wäre, obwohl in beidem – Stichwort: Erziehungsdiktatur – durchaus ein Körnchen Wahrheit steckt. Dass die Grünen es aber nicht geschafft haben, das Steuermodell mit einem umfassendenGerechtigkeitsmodell zu verknüpfen und den Veggie Day als Symbol einer neuen Mensch-Natur-Balance zu inszenieren, ist nicht auf falsche Begründungen und fehlende zugkräftige Bilder zurückzuführen. Da muss man schon tiefer bohren im grünen Salzstock.
Dabei steht es um die Substanz in den Schächten viel besser, als die gegenwärtige Oberfläche vermuten lässt. Über 30 Jahre angereichertes Sediment, das auf Abbau wartet, auf Sichtung, Nutzung oder Verwerfung. Es gibt durchaus tragfähige Konzepte, die versuchen, Gerechtigkeitsdichotomien aufzuspüren und auszuloten. Und es gibt glücklicherweise immer noch Menschen bei den Grünen, die das Internationalistische im Blick haben und über den europäischen Status quo stellen. Nicht alles und jedes ist kontaminiert von der Macht, deren Erzählung immer nur die langweilige vom Machterhalt sein kann. Die Chance, in der unbedeutenden zweiten Reihe zu stehen, kann von den Grünen genutzt oder vertan werden.
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