Die Wirkkraft der existenzialistischen Philosophie und Literatur, die das Lebensgefühl einer ganzen Generation geprägt hat, ist kaum zu überschätzen. Sie war viel mehr als nur Attitüde einer selbst ernannten Avantgarde, die bei genauer Hinsicht die Sinnsuche nie aufgegeben hatte und sich an den Rätseln festbiss, die die Vordenker aufgegeben hatten. Der 1942 erschienene Roman Der Fremde von Albert Camus war ein solches Mysterium, mit dem der aus dem algerischen Oran stammende Autor seine bio-geografischen Fesseln abstreifte und als Pariser Stimme wahrnehmbar wurde.
Die Geschichte des mediokren, ambitionslos vor sich hinlebenden Speditionskaufmanns Meursault, der unter der brachialen Mittagssonne am Strand von Algier scheinbar willen- und absichtslos einen Mensch
htslos einen Menschen niederschießt, gehört bis heute zu den provozierenden Schuldverstrickungen der Literatur. Denn nicht den Mord an einem Araber legt ihm das kafkaesk anmutende Gericht zur Last, sondern seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod seiner Mutter, seine Indifferenz gegenüber jeglicher Schuld, seine Gottferne und letztlich die Akzeptanz des Todes. „Es besagt nichts“, heißt es in der berühmten Exposition des Romans. Das Nichts ist die vergeheimniste aufzufüllende Leerstelle dieser invasiv operierenden Texte.Doch Camus’ Titelfigur hat einen verschwiegenen Konterpart, der bei der Spurensuche um Meursault nie eine Rolle gespielt hat. Erst die postkoloniale Wende ermöglichte, das bislang nur im westlichen Kontext denkbare Absurde auf ihre Verdunklungen hin zu befragen, auf die abgewandte Seite der intellektuellen Spielereien und das eigentliche Opfer: den lediglich als „Araber“ bezeichneten Mann, der sich zufällig an diesem Strand befand und dem Camus noch nicht einmal einen Namen gönnt. Ein Skandalon, das auch linke Exegeten nicht störte.Keine Nachahmung70 Jahre und eine Befreiung später sitzt ein alter Mann namens Haroun Nacht für Nacht in einer Bar in Oran und erzählt die Geschichte seines Bruders Moussa: Moses, der in jener „Teufelszeit“ zwischen 12 und 14 Uhr zu Tode gekommen war, aus Überdruss und Langeweile oder einfach, weil Meursault von der Sonne geblendet worden war. „Diese Geschichte müsste neu geschrieben werden“, heißt es im Wiederaufnahmeverfahren des Falls Meursault, „in der gleichen Sprache, aber diesmal, wie das Arabische, von links nach rechts.“ Eine „Gegendarstellung“, nennt es der algerische Journalist und Schriftsteller Kamel Daoud, der mit diesem grandiosen Erstlingsroman knapp am renommierten französischen Prix Goncourt vorbeigeschrammt ist. Seither wird Daoud von Islamisten bedroht, eine Fatwa wurde ausgesprochen.Dass er das Buch um den berühmten Mörder keineswegs nachzuahmen beabsichtige, wird gleich zu Beginn klargestellt. Die französische Sprache habe sich der Erzähler wie „herrenloses Gut“ angeeignet, um den Mörder, der sich ins Nichts aufmachte, zu zwingen, ihm in die Augen zu schauen und ihn wahrzunehmen. Nicht zu einem Duell mit einem nicht mehr einholbaren Toten, dessen Genie darin bestand, ein Verbrechen vergessen zu machen, fordert der Erzähler heraus, sondern zu einer Stellungnahme: „Das Absurde tragen mein Bruder und ich auf unseren Schultern oder im Bauch unserer Heimat.“Während Camus allerdings aus einer aus dem Ruder gelaufenen Abrechnung „ein philosophisches Verbrechen“ gemacht hat, verwandelt Daoud den Fall Meursault in poetische Münze. Einem fiktiv am Tisch sitzenden jungen Literaturdozenten – „Herr Literaturwissenschaftler“ nennt er ihn einmal in Anspielung an den „Herrn Antichrist“ in Der Fremde – und mit dem „Gespenst“ Camus im Rücken, berichtet Haroun aus seiner Perspektive die Geschichte seiner algerischen Familie, die sich seit dem Abtauchen des Vaters auf den älteren Bruder gestützt hat.Durch dessen „absurden“ Tod stürzt sie in materielles Elend und verlässt Algier in Richtung ausgerechnet jenes Dorfs, Hadjout, in dem Meursaults Mutter begraben liegt. Darüber hinaus wird Haroun in eine ausweglose Double-bind-Situation verstrickt, weil er für die Mutter, M’am, nur Ersatz ist und sich nie aus der Schuld, überlebt zu haben, befreien konnte. Den Bruder vor der Welt als Märtyrer zu behaupten, ist die Mission des Erzählers, diesem modernen Sisyphos: Er habe ein Recht zu leben, „trotz der Absurdität meiner Existenz, die darin besteht, einen Leichnam einen Berg hinaufzuhieven, bevor er wieder hinunterstürzt, und das ohne Ende.“Solche Verweise auf den „Urtext“ finden sich zahlreich und oft in ironischer Brechung, die von den „zwei kurzen Schlägen auf die Pforte der Befreiung“ bis zu einer langen Textpassage am Ende des Berichts reichen. Sie persifliert den berühmten Schluss des Camus-Romans, indem der Begriff „Priester“ durch „Imam“ ersetzt wird.Mit dieser dem Erzähler in den Munde gelegten Religionskritik betritt Daoud ein in Algerien gefährliches Feld. „Die Religion“, erklärt Haroun, „ist für mich wie öffentliche Verkehrsmittel, ich nehme sie nicht. Ich bewege mich gern hin zu Gott, auch zu Fuß, wenn es sein muss, aber nicht in einer organisierten Gruppenreise.“ Die seit der Unabhängigkeit aufgekommenen Freitagsrituale erregen nur Abscheu bei ihm. Einige dieser Passagen veranlassten den Salafisten Abdelfattah Hamadache Zeraoui zum Mordaufruf gegen den Autor.Schreiben als ErinnernDoch es wäre zu kurz gegriffen, den Roman nur als Pamphlet gegen den Islamismus zu lesen, das übrigens auch als Kritik der Folgen der algerischen Befreiung zu verstehen ist. Haroun nämlich wiederholt das Verbrechen, indem er ein paar Tage nach der Befreiung 1967 auf Wunsch seiner Mutter und völlig grundlos einen Franzosen erschießt. Doch auch diesmal wird dem Erzähler nicht die Tat als solche zur Last gelegt, sondern dass er sie zu spät und nicht legal als Teil der algerischen Befreiungsarmee begangen hat.Unverkennbar sind in die Beschreibungen der alten Kolonialverhältnisse die Lektüren Edward Saids eingegangen, etwa wenn von Algerien als vergewaltigte Prostituierte die Rede ist, dessen Küste willig die Beine spreizte und „dem Kolonialherrn serviert“ wurde. Er habe sich nie als „Araber“ gefühlt, sinniert Haroun. „Es ist wie die Negritude, die nur durch den Blick des Weißen existiert.“ Es brauchte diesen Blick, um seinen Bruder zu töten. Die Raoumis, „die Fremden“, habe Gott geschickt, „um uns auf die Probe zu stellen“. Der „Mörder-Schriftsteller“ habe sich geirrt, Moussa habe gar nicht die Absicht gehabt, ihn zu töten. „Wir wussten, dass sie am Ende wieder gehen würden.“ Nur, dass mit der Befreiung die Gewaltverhältnisse eben nicht endeten. Der Angst vor dem Absurden hätten die Leute ihren religiösen Eifer entgegengesetzt.Allerdings ist Daoud mittlerweile nicht nur ins Visier von Islamisten gerückt. Kritik ernteten seine kürzlich in Le Monde ausgebreiteten Betrachtungen zu den Kölner Silvesterereignissen. Mit dem Verweis auf das „sexuelle Elend“ in den muslimischen Ländern und der Vorstellung, beim Islam handele es sich um eine „Religion zum Tode“, rufe er alte Klischees auf, die eher vernebelten als erhellten. Doch bei aller politischen Schärfe, die Daoud als unerschrockenen und polemischen Journalisten ausweist, besticht der Autor auch als Poet mit seiner Beobachtungsgabe und Bilderfülle, die er dem puristischen Vorbild, der knapp sezierenden, philosophisch verbrämten Sprache Camus’ gegenüberstellt. „Gerade hat die Nacht den Kopf des Himmels in Richtung Unendlichkeit gewendet. Es ist der Rücken Gottes, den du siehst, wenn die Sonne dich nicht mehr blind macht.“Dass dieser Erzähler die Indolenz seines Vorgängers, Meursault, ausbaden muss in Form einer dramatischen Mutter-Sohn-Beziehung mit allen Erscheinungen des Liebesscheiterns, ist nicht nur ein psychologischer, sondern auch ein literarischer Aspekt dieses Romans. Denn auf einer zweiten Ebene verhandelt Daoud die Untiefen des Schreibens. Niemand hätte sich des Fremden erinnert, „wenn er nicht getötet und geschrieben hätte“.Schreiben ist, wie im Fall Camus, Erinnerung, die auch das Potenzial hat auszulöschen, insbesondere alles „weiblich“ Konnotierte. Sein Roman, sagt Daoud, sei allerdings nicht als Antwort auf Camus zu verstehen. Er habe durch Camus seinen eigenen Weg gefunden.Placeholder infobox-1
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