Himmel und Hölle

Berliner Abende Kolumne

Hinter der schmalen Balkonbrüstung steht ein junger Mann in weißem Kaftan und schaut auf den Kottbusser Damm hinunter. "Fahrt zur Hölle!", fordert ein Transparent direkt unter ihm. Meinen sie ihn? Sein Ausdruck bleibt undurchdringlich. Ein Fenster weiter zwei junge Türkinnen. Sie lächeln unmissverständlich aus leuchtenden Kopftüchern, winken. Vielleicht verstehen sie die türkischen Perlen, die aus dem Megafon fallen. Dann setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Die Schießscharten an den Hausfronten schließen sich, und man weiß nicht, was der Mann im Kaftan nun denkt.

Fünfhundert Meter vor dem Kottbusser Tor, dem Teil von Kreuzberg, der vor einer der vielen Reformen mal programmatisch SO36 hieß. Früher bin ich hier allmorgendlich aus der U-Bahn gekrochen, die Hastemalnemark-Erpresser freundlich überstolpernd. Unvergessen der Kulturschock der ersten Monate. Weiblich Vermummtes gab es noch wenig, nur der Mauerstreifen umspannte den Kiez wie ein Tuch und überall bunter Bazar. Der Mauerstreifen ist längst weg, und der Bazar ergießt sich an diesem elend kalten Märzsamstag grau in die Rinnsteine. Dass ich einmal wegen Vermummungen demonstrieren würde, ausgerechnet hier, hätte ich mir nie träumen lassen. Vermummt waren damals doch immer nur wir und standen deshalb auf den Abschusslisten.

Doch Anfang Februar ist im Nachbarbezirk eine junge Türkin, Hatun Sürücü, erschossen worden, weil sie kein Tuch mochte und auch nicht den Lebensstil, den ihre drei Brüder von ihr erwarteten. Die sitzen nun in Untersuchungshaft, und wir demonstrieren, "für Frauenrechte", die eigentlich Menschenrechte sind, und manche von uns sind heute nur deshalb vermummt, weil es so kalt ist. Auf die Wenigen mit den kunstvoll aufgesteckten Kopftüchern unter uns werfen sich die Journalistenkollegen mit ihrem dummen Warum und Wieso, schieben Mikrofone bis in die Hälse, auch sie auf der endlosen Jagd, nur einer anderen, aber wer weiß das schon, vielleicht ähneln sich die Trophäen.

Höchstens hundert, haben Freunde gewettet, nein, tausend werden sich am Rathaus Neukölln versammeln, weil sie finden, dass "Ehrenmorde" nichts mit Ehre zu tun haben, auch nicht mit männlicher.

Der Platz tröpfelt nur langsam voll. Die versprengten Plakate und Transparente stammen aus einer anderen Zeit, haben, recycelt, die Rechtschreibreform nicht mitgemacht. "Stopt Männergewalt", heißt es da noch, obwohl ein pp die Dringlichkeit doch unterstrichen hätte.

Ein bisschen angegraut-recycelt wirken auch wir, die wir uns hier nach so langer Zeit wieder einmal treffen. Hallo, Ulrike, lange her, sagt die Grünenfrau, und ich erkenne sie nicht, weil nun auch sie eine Brille trägt. Manches Gesicht gehört zur Standardeinrichtung, andere, vergessene, tauchen aus der Erinnerung auf, ja, man kennt sich, und alle können wir nicht glauben, dass wir noch einmal diesen langen Weg abschreiten müssen, der vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren begann, je nachdem, woher wir kamen.

Nein, schämen wir uns, es hat sich doch nichts geändert. Vielleicht löst sich deshalb aus den tausend Kehlen keine gemeinsame Stimme, als sei der Text im großen Mainstreaming verloren gegangen. Von den Plakatwänden längs des Wegs lächeln die Schönen, Erfolgreichen freundlich auf uns Überlebte herab.

Vorbei also an den türkischen Ladenfronten des Kottbusser Damms. Nur Aldi hält hier noch die deutsche Stellung, aber was heißt schon deutsch im globalen Supermarkt? Schmuddel-Bilka ist schon lange verschwunden, doch nun vermisse ich auch andere bekannte Stützpunkte: Den Zahnarzt, der mir meine erste Krone verpasst hat, gibt es nicht mehr.

Auf der Galerie des Kreuzberger Zentrums stehen gelangweilte türkische Jungmänner. Ein Sonnenblumenkern trifft unvermittelt eine Demonstrantin. Stell dir vor, da oben steht ein Selbstmordattentäter und stürzt sich auf uns runter, sagt einer der Freunde. Wie viel tagtäglichen Nachrichtenmüll braucht es, bis die kranke Phantasie mit einem durchgeht?

Oranienstraße, vertrautes Terrain. Hier führt der Weg noch immer von der "Fadeninsel" in den "Bierhimmel" und von diesem zurück ins "Jenseits". Nur aus dem angestammten Buchladen ist kein Buchhimmel geworden. Dort, wo wir einst die ersten Nummern dieses Blattes bastelten, hat der Berliner Immobilienleerstand Platz genommen.

Erst später erfahre ich aus dem Fernsehen, dass türkische Polizisten in Istanbul eine Frauendemonstration niedergeknüppelt haben. Ich muss an Yildiz denken, die wir vor zehn Jahren in Berlin versteckt haben, weil sie in der Türkei zwangsverheiratet werden sollte. Jahrelang verfolgte sie die Angst, die Brüder könnten sie doch noch erwischen. Auf der Demonstration habe ich sie nicht gesehen.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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