Hölle am Küchentisch

Pflege Zu Hause in Würde alt werden, das klingt gut. Wenn die Betreuung von der Familie geleistet wird, braucht sie oft selbst Hilfe
Ausgabe 26/2018

Ambulant vor stationär: Das war das Mantra, mit dem die ehemalige SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt ihre Pflegereform 2008 begleitete. Damals wurden die Weichen gestellt für das ambulante Pflegemanagement, das auch das Recht auf Pflegezeit für Berufstätige beinhaltete. Es handelte sich um eines jener janusköpfigen Gesetze, das zwar einerseits den Wünschen der Betroffenen entgegenzukommen scheint, andererseits aber auch von etatistischen Überlegungen bestimmt ist. Denn schon damals war zu sehen, dass das Gros der alten Menschen nicht stationär würde versorgt werden können, nicht nur, weil dafür die Mittel, sondern auch die Pflegekräfte fehlen.

Deshalb leben von den heute über drei Millionen Pflegebedürftigen drei Viertel zu Hause und werden von 4,7 Millionen Angehörigen gepflegt, Tendenz steigend. Was sich hinter den Türen der Privatwohnungen abspielt, ist wenig bekannt, denn im Unterschied zum stationären Bereich, welcher der öffentlichen Kontrolle unterliegt, kommen Überforderung, Verzweiflung und Angst dort höchstens einmal ans Licht, wenn Pflegedienste Alarm auslösen oder ein pflegender Angehöriger zusammenbricht. Fälle von häuslicher Gewalt gegen Pflegebedürftige werden fast nie aktenkundig.

Dabei ist seit Langem bekannt, dass die informelle Pflegesituation konfliktträchtig ist. In diesen besonders schwierigen Nahbeziehungen, die von Abhängigkeit und Hilflosigkeit einerseits, Stress und Überlastung andererseits geprägt sind, kann es zu Aggression und Gewalt auf beiden Seiten kommen. Da ist der pflegebedürftige Ehemann, der es entweder selbstverständlich findet, dass seine Frau rund um die Uhr für ihn da ist oder aber darunter leidet, dass er auf sie angewiesen ist. Die Ehefrau ihrerseits sieht ihre Leistung nicht gewürdigt, baut Frust auf, hegt aggressive Gedanken und wird schon auch mal grob. Da gibt es die demente Oma, die ständig unmotiviert nach ihrer Tochter ruft und gelegentlich auch nach ihr schlägt, sodass diese sie am liebsten vor Wut schütteln möchte; die Schwiegertochter, die sich vor ihrem Schwiegervater ekelt; der Sohn, der seiner Mutter nicht die Windel wechselt, obwohl es notwendig wäre.

Schreien, schütteln, schlagen

Gewalt in der Pflege kann also viele Erscheinungsformen haben, sie reichen von Verbalattacken, psychischen Verletzungen, freiheitsentziehenden Maßnahmen, Vernachlässigung bis hin zu unmittelbarer körperlicher Gewalt und können von beiden Seiten, den Pflegebedürftigen und den sie Pflegenden, ausgehen. Das Zentrum für Qualität in der Pflege hat nun eine Studie vorgestellt, die in einer annähernd repräsentativen Befragung den Gewaltverhältnissen in der häuslichen Pflege nachgegangen ist. Keine einfache Angelegenheit, denn wer gibt schon zu, dass er gelegentlich Hassgefühle in sich trägt oder ihm auch mal die Hand ausrutscht?

Die Wissenschaftler haben den 1.006 Befragten im Alter von 40 bis 85 Jahren, die mindestens sechs Monate mindestens einmal in der Woche einen Menschen betreuen, eine Brücke gebaut, indem sie zunächst nach Gewalt der Pflegebedürftigen ihnen gegenüber fragten und die möglichen eigenen Gewaltakte damit in einen kausalen Zusammenhang rückten. Wenig überraschend erklärten viele Befragte, dass sie sich von der Pflegesituation so belastet fühlen, dass sie häufig entweder negative Gedanken gegenüber der pflegebedürftigen Person hegen oder wütend und verärgert sind. Über ein Drittel fühlt sich niedergeschlagen, die Hälfte klagt über körperliche Beschwerden. Mehr als die Hälfte der Pflegenden sind unzufrieden, weil sie zu wenig Zeit für sich selbst oder für das Zusammensein mit anderen Menschen haben.

Vielen Befragten fehlt es auch an Anerkennung, zwei Fünftel haben den Eindruck, die pflegebedürftige Person wisse das, was man für sie tue, nicht zu schätzen. Dass man den Angehörigen schon mal vor Wut hätte schütteln können, sagt ein Viertel der Pflegenden. Viele wurden schon mit Worten beleidigt (32 Prozent), angeschrien und herumkommandiert (36 Prozent), wobei es sich oft auch um krankheitsbedingtes Verhalten – etwa bei Personen mit Demenz – handelt. Fast die Hälfte der Befragten berichtet, in den letzten sechs Monaten psychische Gewalt erfahren zu haben. 18 Prozent wurden in diesem Zeitraum sogar Opfer von unmittelbarer körperlicher Gewalt (stoßen, schlagen, spucken, mit dem Rollator rammen etc.), davon elf Prozent durch Pflegebedürftige mit Demenz. Die Überlastungssituation führt aber auch dazu, dass die Betreuenden ebenfalls schreien und herumkommandieren, einschüchtern oder beleidigen: 40 Prozent geben an, im Berichtszeitraum mindestens einmal ein solches Verhalten gezeigt zu haben, ein Drittel sagt, es komme sogar häufiger vor. Von körperlicher Gewalt (grob anfassen, zerren, schubsen, schlagen) sprechen zwölf Prozent. Fast ebenso viele haben die pflegebedürftige Person auch schon bewusst vernachlässigt.

Auf beiden Seiten tritt psychische Gewalt also deutlich häufiger auf als körperliche Übergriffe. Und es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Verhalten von Pflegebedürftigen und pflegenden Angehörigen: Pflegebedürftige, die selbst psychische Gewalt ausüben, sind auch häufiger von ihr betroffen als jene, die dies nicht tun. Auffällig ist auch, dass demente Personen häufiger Opfer von Gewalt werden, und zwar oft durch solche Personen, die besonders stark über psychische Belastungen und Zeitmangel klagen. Auch der Beziehungsstatus kann ein Risikofaktor sein, gegen Ehe- oder Lebenspartner wird deutlich mehr Gewalt ausgeübt als gegen Pflegebedürftige in anderen Beziehungskonstellationen.

Kürzlich hat Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) eine Erhöhung des Beitragssatzes zur Pflegeversicherung angekündigt; die öffentliche Aufmerksamkeit liegt derzeit vor allem auf der stationären Pflege und den Pflegekräften. Die Studie hingegen zeigt, dass es auch bei der häuslichen Pflege „brennt“. Denn die Gewaltvorkommnisse sind nicht in erster Linie individuell anzulasten, sondern haben eine strukturelle Ursache. Die Betreuenden müssen spürbar entlastet werden, damit das häusliche Leben mit alten kranken Menschen nicht zu einem Schlachtfeld wird.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden