Hört die Signale

R2G Sensationall oder gar revolutionär ist am Bremer Regierungsvertrag nichts
Ausgabe 27/2019
Bremens Bürgermeister Carsten Sieling (SPD, Mitte), die Fraktionsvorsitzende der Linken, Kristina Voigt (links) und der Grünen, Maike Schaefer (rechts)
Bremens Bürgermeister Carsten Sieling (SPD, Mitte), die Fraktionsvorsitzende der Linken, Kristina Voigt (links) und der Grünen, Maike Schaefer (rechts)

Foto: Eckhard Stengel/Imago Images

Es handelt sich zwar um das kleinste Bundesland der Republik, doch manche sehen es schon gülden am gesamtdeutschen Horizont aufsteigen, das R2G-Bündnis. Arithmetisch wäre es bereits in der vorigen Legislaturperiode möglich gewesen, aber ach, die Genossen! Nun sieht sich die einst stolze SPD so in den Boden getreten, dass sie sogar nach dem roten Strick aus dem Karl-Liebknecht-Haus greift, um die 70-jährige sozialdemokratische Regierungstradition in Bremen leichenblass zu verlängern. Und unter der Noch-Mitwirkung des Regierenden Bürgermeisters Carsten Sieling haben es die Koalitionäre sogar geschafft, ihre Verhandlungen völlig lautlos und ohne hektische Balkonszenen über die Bühne zu bekommen. Backstage sozusagen.

Nun liegt er vor, der rot-grün-rote Koalitionsvertrag, und er ist ungefähr so, wie man ihn sich unter der ächzenden Last von 20 Milliarden Euro Schulden und dem Spagat zwischen drei doch recht unterschiedlichen Parteien erwarten darf. Eines vorweg: Sensationell oder gar revolutionär ist er nicht. Viel Papier hält her für die Themen Kinderbetreuung, Schulen und Bildung, aber alles in gemäßigtem Rahmen: mehr Kita-Plätze, flexiblere Öffnungszeiten, mehr Personal und an die maroden Schulbauten will der Senat auch ran. Auch im sozialpolitischen Bereich gibt es Angebote, etwa ein Arbeitsmarktprogramm für Alleinerziehende und eines, das die Integration von Migranten erleichtert.

Freuen dürfte sich der Berliner Senat, denn auch Bremen will prüfen, ob der Mietendeckel ein geeignetes Instrument gegen den Mietenanstieg ist: „kann in Betracht kommen“, so steht es im Vertrag. Neben dem Bau von Sozialwohnungen soll genossenschaftliches Eigentum gefördert werden und Familien mit Kindern erhalten, wenn sie Grund erwerben, einen Landeszuschuss. Dass die Grünen die Hauptautorschaft bei diesem Vertragswerk übernommen haben, ist unübersehbar in den Abschnitten, in denen es um Klimaschutz und Verkehr geht. Zwar konnten sich die Vertragspartner nicht schlicht auf den Nulltarif im Öffentlichen Nahverkehr einigen, doch es soll eine Machbarkeitsstudie zu den verschiedenen Modellen geben. Die vielleicht brisanteste Ansage des Koalitionsvertrags ist die Erklärung, Bremens Innenstadt bis 2030 autofrei zu machen.

Wollen, sollen, können: Dabei ist schon mancher vom Baum gefallen. Davon abgesehen spürt man die Zurückhaltung, die der Industriestandort Bremen mit Auto- und Stahlindustrie und seinen Werften den politischen Akteuren auferlegt. Die Versicherung, ihnen „verlässlicher Partner“ bleiben zu wollen, klingt durch. Andererseits ist es aber vielleicht gar nicht so dumm, die süßesten Kirschen auf dem Baum zu lassen und Hausmannskost zu servieren.

Der Spielraum ist in Bremen auch nach dem veränderten Länderfinanzausgleich gering, und die „Haushaltsverhandlungen“, so Hermann Kuhn, der Landesvorstandssprecher der Grünen, „werden die zweiten Koalitionsverhandlungen“. Skeptisch ist er auch, ob das Bremer Modell auf den Bund ausstrahlen könne.

Dass die Linke nun aber erstmals in einem westdeutschen Bundesland mitregiert, könnte Signalcharakter haben. Bei einer Geräuschlosigkeit wie bei den Koalitionsverhandlungen wird zwar sicher keine Revolution daraus, aber vielleicht ein Prestigegewinn. Und mit Carsten Sielings Verzicht auf das Bürgermeisteramt ist die SPD einen weiteren Loser losgeworden. Aufbruch, Aufbruch!, skandiert sie, noch im Dunkeln.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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