Hundstage

BERLINER ABENDE Einer dieser unendlich blauen Mittjunitage, als man in Berlin noch den Jahrhundertsommer beschwor und Wetten abschloss, wann der 40-Grad-Zenit ...

Einer dieser unendlich blauen Mittjunitage, als man in Berlin noch den Jahrhundertsommer beschwor und Wetten abschloss, wann der 40-Grad-Zenit überschritten würde. Um den künstlichen Teich am Potsdamer Platz warten aufgefädelt feine Designer-Schuhe neben ausgetretenen Latschen. Die dazugehörigen Füße pendeln in der Brühe, nach sechs Wochen Hitze eingekocht und eingedickt mit den Einlagen, die die mittäglichen Fast-Food-Gäste ihr hinterlassen. Schwerfällig wanken zwei vollgefressene Wohlstandstauben einer fortgeworfenen Eiswaffel hinterher; zu gemächlich, ein eingewandertes Spatzenvolk trägt triumphierend den Zivilisationsmüll davon.

Mehr als Füße mag man diesem Sud kaum ausliefern. In die Sonne gelagert, beobachten die Ruhenden träge eine Gruppe Kids, die die Zeit damit totschlägt, aus dem Wasser auf eine Bank zu hopsen. Triefnass und schmierig bedrängen sie eine ältere Frau. Bei jedem Hüpfer versucht die alte Dame auszuweichen, bringt ihre Siebensachen in Sicherheit, sucht Schutz vor den frechen Fischen, die ihr johlend und stoßend fast in den Schoß springen. Etwas zu sagen, wagt sie nicht, nur gelegentlich schweift ein hilfesuchender Blick herüber: Sie meinen es sicher nicht bös, will er sagen, und schon patscht ihr ein nasses T-Shirt ans Ohr.

Ein hundeähnliches Knäuel findet das Treiben aufregend. Zwischen Beinen und Schuhen stolpernd, rast er am Ufer hin und her und kläfft. Kein Herrchen pfeift ihn zurück, nur die Sonnengäste blicken genervt.

Die Kids haben ihr erbarmungsloses Spiel mit der armen Frau unterbrochen. Wer sich nicht provozieren lässt, langweilt. Sie tauchen ins Wasser zurück und finden es megageil, nun den Hund nass zu spritzen. Der gerät völlig aus der Fassung, hopst vor und zurück, jault und kläfft wie aufgezogen. Das wiederum begeistert die brüllende Horde. In Abständen jappst der Köter nach Luft, schüttelt sich rücksichtslos über Zeitungen und Big Macs, bis ein weiterer Schwall ihn trifft. Das Spektakel ist ohrendbetäubend. Alle schauen und schweigen. Nur die Schuhe werden aus der Gefahrenzone gebracht.

Mittlerweile nimmt das überdrehte Tier seinen Lauf wieder auf, verfolgt von den jugendlichen Peinigern. Es purzelt über den neben mir sitzenden Mann, der das Treiben schon eine Weile beobachtet. Äußerlich völlig entspannt, kündigt nur sein rasender Adamsapfel die Katastrophe an. Blitzschnell greift er nach der Töle, fasst sie im Genick, hält sie hoch. Einen winzigen Augenblick Unentschlossenheit, noch schwebt das verängstigte Tier über dem Wasser. Dann platscht es.

Plötzlich ist es totenstill. Kein Kläffen mehr und auch kein Kindergebrüll. Die Kids halten betroffen die Luft an, stehen erstarrt. Erschrocken richten sich aller Blicke auf das strampelnde Etwas.

»Sind Sie verrückt?! Er kann doch nicht schwimmen!!« Eine kreischende Frauenstimme ist über dem Mann, rosa eingehüllt und kompakt. In der gehobenen Hand eine Leine, angesetzt wie zum Schlag. Sie ist außer sich, tobt. »Er ertrinkt, mein Hündchen ertrinkt!« »Blödsinn«, herrscht er sie an, »jede Töle kann schwimmen, die auch.« Auch er jetzt fassungslos, wie entsetzt über sich selbst. »Was fällt Ihnen ein, der doch nicht«, schneidet ihm die aufgebrachte Frau das Wort ab und stammelt weiter: »Der doch nicht!«

Alle blicken ins Wasser. Tatsächlich wirken die Überlebenskünste des Tiers wenig überzeugend, es paddelt verzweifelt, grabscht, geht unter, taucht wieder auf. Hilflos steht die Frau am Ufer, greint. Schon bückt sich der Mann, knüpft seine Schuhe auf, bereit zur Rettung. Doch auch in die Kids sind die Lebensgeister zurückgekehrt, sie fassen nach dem jappsenden Geschöpf, tragen es ans Ufer zurück. Ihre Blicke treffen sich mit dem des Mannes, beklommen, als wüssten sie, wer hier getaucht werden sollte.

»Oh, mein lieber Süßer! Sie, Sie Unhold, Sie!!« Gierig reißt die Frau ihr triefnasses zitterndes Kleinod an sich und funkelt gefährlich. »Passen Sie eben auf ihr Vieh auf.« Kleinlauter diesmal zwar, doch der Mann fühlt sich im Recht. »Einer musste dem Irrsinn hier doch ein Ende setzen und Ruhe schaffen«, fügt er entschuldigend hinzu und blickt sich zustimmungsheischend um.

Doch das Volk ringsum hat sich bereits der Sonne zugewandt oder seiner Lektüre. Über dem Wasser pflanzen sich schon wieder die Schreie der Jungens fort, verhalten zunächst und dann durchdringender. »Wissen Sie«, erklärt der »Unhold« mir später, »über mir wohnt seit vielen Jahren ein Dackel. Der kläfft rund um den Tag, und nächtens sperrt ihn seine Herrin gelegentlich auf den Balkon. Es gibt Augenblicke, da geht einem das Messer auf im Sack.«

Am nächsten Tag schon wieder eine Meldung über einen Amokläufer, der bei einer Polizeikontrolle durchdrehte. Wieviele Hunds tage braucht es, bis ein Messer aufgeht im Sack.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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