Ich bin Chirurg, ich muss nach Brandenburg

Kollektiv Mitarbeiter betreiben oder gründen ihre eigene Klinik – etwa in Spremberg, Berlin-Neukölln und Hamburg-Veddel
Ausgabe 30/2017
Ich bin Chirurg, ich muss nach Brandenburg

Illustration: Jonas Hasselmann für der Freitag

Ein Bibbern geht durch die deutsche Krankenhauslandschaft, wenn jedes Jahr der Krankenhaus Rating Report vorgestellt wird. Regelmäßig beschreibt er die wirtschaftliche Lage der Kliniken noch einmal ein bisschen schlechter als im Vorjahr. Der 2016 eingerichtete, von Bund und Ländern partnerschaftlich finanzierte Strukturfonds von einer Milliarde Euro hat offenbar noch nicht angeschlagen. Die Autoren des Rating Reports 2017 von RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, Institute for Health Care Business und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte haben 506 Jahresabschlüsse ausgewertet und vermelden, dass sich die Situation gegenüber 2012 zwar verbessert, im Vergleich zum Vorjahr aber verschlechtert habe.

Neun Prozent aller Krankenhäuser sind insolvenzgefährdet, weitere zwölf befinden sich im ökonomisch problematischen Bereich. Über ein Fünftel aller Kliniken verzeichnen Jahresverluste, vor allem die kommunalen Krankenhäuser und die großen Universitätskliniken. Große, privat betriebene Krankenhäuser dagegen verzeichnen Gewinne. Heißt das, dass Gesundheit nun endgültig zu einer Ware wird?

Nicht im brandenburgischen Spremberg. Dort haben die Beschäftigten 1997 ihr Krankenhaus mehrheitlich übernommen. Vorausgegangen waren Schwierigkeiten zweier privater Gesellschafter, deren Anteile an die Stadt zurückfielen. Bei der Ausschreibung griffen die Mitarbeiter zu und gründeten einen Förderverein. Nun gehört das Krankenhaus zu 51 Prozent ihnen.

Das Spremberger Krankenhaus garantiert die Grundversorgung für die Bevölkerung in der Region. Es hält Chirurgie, Innere Medizin, Gynäkologie, Intensivmedizin und eine psychiatrische Fachabteilung vor. Bei dem gemeinnützigen Haus geht es nicht um Gewinne, sondern darum, dass die Mitarbeiter mitbestimmen und die Patienten gut versorgt werden. Ökonomisch wichtige Entscheidungen müssen mit Dreiviertelmehrheit getroffen werden. „Ein völlig neues Modell“, sagt Kathrin Möbius, die kaufmännische Leiterin der Klinik, „es gab überhaupt keine Vorbilder.“ Mit 500 Euro Aufnahmegebühr und einem geringen Jahresbeitrag sind die Beschäftigten dabei.

Für ihr Recht, über das Wohl und Wehe ihres Krankenhauses zu entscheiden, nehmen die Mitarbeiter auch Nachteile in Kauf, denn die Bezahlung ist nicht ganz so gut wie in den Häusern der Umgebung. Dafür gibt es eine betriebliche Altersvorsorge und eine wunderschöne Betriebskita. Die Mitarbeiterfluktuation ist extrem niedrig, was für eine hohe Arbeitszufriedenheit spricht. Das hat auch mit dem Personalschlüssel zu tun, denn in Spremberg kümmern sich mehr Schwestern und Pfleger als anderswo um die Patienten, was wiederum die Patientenzufriedenheit fördert: Beim AOK-Krankenhausnavigator steht Spremberg an erster Stelle unter den Krankenhäusern in Ostdeutschland. Geht doch!

Natürlich kann auch das Spremberger Krankenhaus nicht aus den hierzulande geltenden gesetzlichen Strukturen ausscheren. Auch auf ihm lastet der Druck, Kosten zu sparen und sich gegenüber Wettbewerbern in der Region als konkurrenzfähig zu erweisen. Aber weitsichtige Planung, ein gutes Miteinander und der Blick auf die Bedürfnisse von Patienten und Beschäftigten haben dazu geführt, dass das Krankenhaus bisher kostendeckend arbeitet.

In Spremberg haben die Mitarbeiter aus der bestehenden Not eine Tugend gemacht. Es ging zunächst nur darum, Krankenhaus und Arbeitsplätze in einer strukturell schwierigen Region – unmittelbar in Nachbarschaft zum Braunkohlegebiet Schwarze Pumpe – zu erhalten. Dass dabei auch eine qualitativ in vielerlei Hinsicht vorbildliche Klinik herausgekommen ist, war gewollt, aber nicht ursprüngliche Absicht.

Ganz nah am Kiez

Inzwischen gibt es aber viele jüngere Gesundheitsarbeiter, die mit dem System an sich so unzufrieden sind, dass sie nach Wegen suchen, die Versorgung auf neue Beine zu stellen: Im Rollberg-Viertel in Berlin-Neukölln ist das Gesundheitskollektiv unterwegs, derzeit per Anschubfinanzierung der Bosch Stiftung unterstützt. Kieznah soll es sein, an den Lebensbedingungen und Bedürfnissen der Bewohner orientiert. Rund 20 Menschen aus unterschiedlichen Gesundheitsberufen arbeiten daran, auf dem alten Gelände der Kindl-Brauerei ein Stadtteilgesundheitszentrum zu eröffnen.

Der Motor des Projekts ist die schlichte Einsicht, dass Armut krank macht. Ebenso, wie die heutigen Arbeitsbedingungen im Gesundheitssystem krank machen. „Das ganze System erschien mir sinnlos“, sagt der Arzt Ben Wachtler, der entsprechende Erfahrungen aus einem Krankenhaus mitbringt. Im Rollberg-Viertel, wo 6.000 Menschen aus 30 Nationen leben, wollen sie ausprobieren, ob man es anders machen kann in der wohnortnahen haus- sowie kinderärztlichen und irgendwann auch in der psychiatrischen Grundversorgung.Die Menschen, die ins Zentrum kommen – auch Nichtversicherte – sollen in ihren lebensweltlichen Zusammenhängen und nicht nur als „gesundheitliches Problem“ wahrgenommen werden. Dafür stehen neben Ärzten und medizinischem Personal Sozialarbeiter und Psychotherapeuten zur Verfügung, in Kooperation mit allen, die im Viertel schon in diesen Bereichen arbeiten. „Wir haben nicht den Anspruch, etwas neu zu erfinden“, sagt Gesundheitswissenschaftlerin Maike Grube. Wichtig sei, dass die Leute, die im Kiez wohnen, teilhaben können. Das Projekt will sich zudem auf die Gesundheitsvorsorge spezialisieren. Es geht nicht unbedingt um Einheitslöhne oder darum, dass alle alles können müssen wie einst in der Gesundheitsprojektbewegung. „Das Ganze muss sich wirtschaftlich tragen“, sagt Ben Wachtler.

Vorbild für das Gesundheitskollektiv ist die Poliklinik in Hamburg-Veddel, die nach langjähriger Planung im Februar an den Start ging. In Veddel sterben die Menschen statistisch früher als in Blankenese, verkündete das Projekt, als es die Tore öffnete. Ein Armutszeugnis für ein Land, das nicht nur medizinische Hochtechnologie vorhält, sondern auch Hunderttausende hochmotivierter Gesundheitsarbeiter.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden