Nach der extremen Schwüle, die seit Tagen im Rheintal nistet, wirkt die Kühle fast schockartig. Wir durchqueren den Gang eines gesichtslosen Zweckbaus im Westen der Stadt, blaue Kittel an Haken, rechts Räume mit medizinischem Material. Vor einer großen Personenwaage macht Harald Lehnert* Halt, stellt sich darauf, 78 Kilo, knapp zwei Kilo mehr, seit er am Mittwoch das Dialysezentrum verlassen hat. Er füllt einen Zettel aus mit den Daten. „Das zeigt“, erklärt er mir, „wie viel Liter heute abgepumpt werden müssen.“ Manchmal, vor allem vor den Wochenenden, setzt er hinzu, schummle man ein wenig, damit mehr Flüssigkeit wegkommt. „Dann kann man etwas über die Stränge schlagen.“ Harald, den alle nur Harry nennen, liebt Currywurst, die gerade ihren 70. Geburtstag feiert. Vier Jahre älter als er.
Energisch steuert Harry seinen Platz am Fenster an, bereitet die Liege vor, legt den Science-Fiction-Roman, der ihn über die nächsten vier Stunden retten soll, und das Handy zurecht. Gleich werden sechs bis sieben Liter seines Bluts drei- bis viermal umgewälzt, Giftstoffe und Wasser herausgefiltert und das Blut zurückgepumpt. Versiert erklärt mir Harry das Display der Blutwaschmaschine: Durchlaufgeschwindigkeit, Druck, Alarmbutton. Um ihn herum liegen schon seine Mitpatienten, Schichtwechsel, man kennt sich. „Tag, Herr Lehnert“, grüßt die Schwester, „wie viel haben wir, zwei Liter?“ Sie hat heute Spätschicht und freut sich, weil sie mal nicht um halb fünf aufstehen muss: „Die Kinder sind in den Ferien.“ Routiniert schließt sie die Kanüle an den Shunt im rechten Arm an, startet die Maschine. Die Blutwäsche beginnt.
Fast ein Halbtagsjob
Harald Lehnert ist einer von rund 7.500 Patienten, die nach der Statistik der Deutschen Stiftung Organtransplantation 2018 auf der Warteliste für eine transplantierbare Niere standen. Die Zahl der Organspender sinkt seit Jahren, nicht zuletzt aufgrund von vielen Skandalen, die das Vertrauen in das Verteilungssystem schwer beschädigt haben. Gesundheitsminister Jens Spahn ist vorgeprescht, will alle Bürger zu Organspendern machen, soweit sie nicht explizit widersprechen. Darüber gibt es politischen Dissens, denn es wäre eine Abkehr vom bisherigen Prinzip der ausdrücklich formulierten Zustimmung zu dem, was sich „freiwillig“ und „Spende“ nennt. Viele Abgeordnete über die Fraktionen hinweg haben ethische und verfassungsrechtliche Bedenken und wollen die bestehende Regelung weitgehend erhalten.
Das war auch die rechtliche Situation, als Harald Lehnert nach einem Herzinfarkt 1999 in Pension ging und sich herausstellte, dass eine seiner Nieren einen leichten Schaden hatte. Zehn Jahre gab ihm der Nephrologe bis zur Dialyse. „Hat auf den Monat genau gestimmt, das war 2009“, erinnert sich Harry. Nun wird er dreimal die Woche um halb eins von einem Fahrdienst abgeholt. Wenn die Bundesstraße frei ist, eine gute halbe Stunde, oft länger, alles in allem sechs Stunden. Als ich an diesem Freitagnachmittag in der Stadt auf ihn warte, ahne ich, wie lange sich das dehnt.
Gesetzesentwürfe
An diesem Donnerstag stimmen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages ohne jeden Fraktionszwang über die Zukunft der Organspende ab. Zur Disposition stehen zwei konkurrierende Gesetzentwürfe.
Widerspruchslösung: Jeder Bürger ist Organspender, soweit er nicht widerspricht und dies in einem Zentralregister dokumentiert. Im Zweifelsfall entscheiden die Angehörigen – mit der Beweislast, dass der Betroffene kein Spender sein wollte. Initiatoren des Entwurfs: Jens Spahn (CDU) und Karl Lauterbach (SPD).
Weiterentwicklung Zustimmungslösung: Ausdrückliche Zustimmung nach regelmäßiger Befragung der Bundesbürger und Dokumentation in einem bundesweiten Onlineregister. Initiatorinnen: Annalena Baerbock (Grüne) und Katja Kipping (Linke), unterstützt von den ehemaligen Gesundheitsministern Ulla Schmidt (SPD) und Hermann Gröhe (CDU).
Bevor Harry 2012 mit der Blutwäsche (Hämodialyse) begonnen hat, versuchte er es mit ambulanter Bauchfelldialyse (Peritonealdialyse, CAPD). Dabei findet die Entgiftung kontinuierlich im Bauchraum statt, der Patient ist selbst für den therapeutischen Ablauf zuständig. Damals wohnte Harry noch in der Stadt und war begeistert von dieser Möglichkeit: „Weisch“, erzählt er im breiten Sprech der Gegend, „am Anfang war das super, ich war daheim, der Hund lag neben mir. Die Frau von Baxter (der Firma, die das Produkt vertreibt, Red.) hat das gut erklärt, und ich hab gedacht, prima, ich muss nirgendwo aufmarschieren und auch nicht dauernd überprüfen, was ich esse und trinke.“ Für den spontanen Lebemenschen, der gerne mal länger in der Kneipe saß oder etwas unternahm, eine echte Option. Aber dann gab es vieles, was ihn genervt hat: „Wenn jemand mit mir ins Kino wollte, musste ich gerade einen Wechsel machen, denn alle vier Stunden muss die Flüssigkeit ja entsorgt werden.“ Er wusste nicht, wohin mit dem giftigen, verklebten Zeug – „Na ja, Kanalisation“ –, alles war ziemlich umständlich. Und nach zwei Jahren machte das Bauchfell schlapp, verlor seine Filterfähigkeit, „das war’s dann“.
Der Labrador, Boogie, von dem Harry redet, war damals noch ganz jung, Janis kam erst später dazu. Inzwischen ein alter Herr, wirft mich Boogie bei der Begrüßung immer noch fast um vor Begeisterung. Harry lebt mit einem befreundeten Paar wieder in seinem Heimatdorf, das durch den S-Bahn-Anschluss inzwischen zum Speckgürtel gehört. Um das auf einem großzügigen Grundstück liegende Zweifamilienhaus aus den 1960ern herum schießen Neubauten aus dem Boden, mit Handtuchvorgärten und SUV-Pflanzen. In seiner Jugend ist Harry nur von hier geflohen, hatte nichts als Rockmusik im Sinn, doch seine Eltern bestanden darauf, dass der von Geburt an körperbehinderte Sohn was Ordentliches macht, Beamter bei der Stadt, am Ende waren es über 30 Jahre, moderater Aufstieg inbegriffen. „Das hat mir vielleicht gestunken damals“, grinst er und streicht sich über den blanken Schädel. Heute sei er froh.
Manches in der Wohnung erinnert noch an diese Zeit, hohe Regale, gesäumt von Vinyl und CDs (alles Rock) und der berühmten lila Reihe aus dem Suhrkamp-Verlag, ungezählte Science-Fiction. Auf dem Küchentisch Colson Whiteheads Zone One. Harry werkelt geschickt in der Küche herum, kocht auch gerne und gut. Die Umstellung auf die Hämodialyse, erzählt er, sei ihm nicht so schwergefallen, „ich bin ja raus aus dem Job, muss keine Familie organisieren und hab hier meine Aufgaben, vormittags geh ich einkaufen und mit den Hunden spazieren, und die drei Nachmittage im Zentrum, ich sag mir halt, das ist wie ein Halbtagsjob“. Am Anfang wollte er das noch in der Nachtschicht machen, von sechs Uhr abends bis um zehn, aber das funktionierte nicht: „Der Körper ist dann in Aufruhr, ich konnte nicht schlafen, und wenn ich spät heimkam, schlugen die Hunde an.“
Zum ersten Mal hat Harry über eine Transplantation nachgedacht, als seine Kreatinin-Werte, die über die Nierenfunktion entscheiden, immer schlechter wurden. „Machen Sie sich mal ein paar warme Gedanken über Transplantation“, riet ihm der Arzt. Die Wartezeit betrug damals acht Jahre. Also ließ sich Harry auf die Warteliste setzen, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen, denn „je mehr ich darüber nachdenke, desto schlechter geht es mir, war mein Motto damals“. Bis zur Geschichte mit Juan.
Juan war ein etwas älterer Sprachschüler aus Girona, der bei Harry in der Stadt gewohnt hatte. Man besuchte sich, verreiste zusammen, bis Juan 2011 ebenfalls nierenkrank wurde. Er war damals gerade aus Katalonien nach Berlin gezogen und begann mit der Dialyse. Da er aber in Spanien, wo die von Spahn favorisierte Widerspruchsregelung gilt, schneller Aussichten auf eine neue Niere hatte, ließ er sich dort auf die Warteliste setzen. Mit Erfolg, nach relativ kurzer Zeit war ein Spenderorgan gefunden. „Und das war sein Tod“, sagt Harry.
Wenige Wochen nach der Transplantation entwickelte Juan eine Abstoßungsreaktion. „Ich hab noch mit ihm telefoniert, er war guter Dinge. Plötzlich erreichte ich ihn nicht mehr. Erst über Facebook habe ich mitbekommen, was los war.“ Juan war ins Koma gefallen, nicht mehr aufgewacht und gestorben, alles innerhalb einer Woche. „Damals habe ich angefangen, über all das nachzudenken. Ich wusste, dass ein Todesfall kein Grund ist, Transplantation abzulehnen, aber das war für mich der Punkt. Ich habe viel gelesen über das Leben nach einer Transplantation, wie das ist mit den Immunsuppressiva und dass jede Erkältung gefährdend ist.“ Und ja, essen und trinken dürfe er dann auch nicht, was er wolle.
Außerdem war Harry ständig mit Patienten konfrontiert, die nach einer fehlgeschlagenen Transplantation oder mit einem versagenden Organ im Zentrum aufploppten und denen es richtig mies ging. „Sie sehen nur die Leute, die hier ankommen“, beruhigte ihn der Arzt, „die, denen es gut geht, sehen Sie nicht.“ Doch seit einiger Zeit gibt es neue Verteilungsregeln. Harry musste sich damit einverstanden erklären, nur ein Organ von einem über 65-jährigen Spender zu erhalten. Er rechnete: Eine Niere, die er jetzt bekäme, würde maximal zehn Jahre funktionieren, dann wäre er 76 und der Dialyse-Zirkus ginge wieder los. „Darauf habe ich keine Lust.“
Wie Science-Fiction, das wär’s
Deshalb hat er nach reiflicher Überlegung vor zwei Monaten entschieden, sich von der Warteliste nehmen zu lassen. „Die Ärzte dachten, ich hätte Frust, weil ich schon so lange warte. Einer wollte ständig mit mir darüber diskutieren. Aber ich will einfach nicht mehr unter dem Entscheidungsdruck stehen, am Telefon, wenn die anrufen. Wenn ich dann Nein sage, ist die Niere, die einem anderen helfen könnte, ja vielleicht futsch.“
Vieles, sagt Harry, habe auch damit zu tun, dass er nicht in ein Räderwerk von Politik, Pharmamedizin und Industrie kommen wolle. „Ich finde es ja jetzt schon schlimm, ständig unter Kontrolle zu sein mit meinen Blut- und Nierenwerten, das ganze Drumherum, jedes Vierteljahr. Wenn ich transplantiert werde, muss ich jeden Monat antanzen, werde gefragt, was ich esse, wie ich lebe, alles wird durchleuchtet.“ Das Antiautoritäre in ihm spiele dabei schon eine Rolle. Aber vor allem will er sich eine so große Operation nicht mehr antun. Wenn er so leben könne wie jetzt, ein bisschen auf Quantitäten achten, aufpassen mit dem Trinken, sei ihm das lieber: „Ich lebe hier doch wie Bolle“, sagt er und schaut aus dem Küchenfenster in den sommerheißen Garten. Den Erzählungen vom „neuen Leben“, von dem viele Transplantationsgeschichten handeln, misstraut er. Es sei danach eben nicht immer besser als vorher.
Als ich ihn frage, ob er darüber nachdenke, welche Konsequenzen das für seine Lebenserwartung hat, trinkt er einen großen Schluck Wasser. „Ja.“ Und noch einmal: „Ja, das nehme ich in Kauf.“ Für viele Leute, das wisse er, sei es das Größte, ein neues Organ zu bekommen. Und er nimmt auch die Kritik an der Organspende wahr, die Probleme mit der Hirntodbestimmung und anderes, aber das sei für ihn nicht ausschlaggebend. „Für mich als alten Science-Fiction-Leser ist es doch auch spannend, was man so alles machen kann. Nachwachsende Organe zum Beispiel, das wäre was für mich.“ Das Angebot seines Bruders, der ihm eine Niere abgeben wollte, hat er allerdings abgelehnt: „Ich müsste ewig dankbar sein und hätte ein schlechtes Gewissen, wenn dem was passiert oder dem Organ, nee, bloß nicht.“
Ginge es nicht um eine Niere, sondern ein Herz, das weiß Harry, sähe alles anders aus: „Beim Herz, das ist null oder eins, da gibt es keine Alternative.“ Mit der Hämodialyse kann er dagegen, wenn nichts dazwischenkommt, 80 werden. Nachdem er sich von der Warteliste hatte nehmen lassen, erzählte ihm der behandelnde Arzt, er wäre wohl noch dieses Jahr an der Reihe gewesen. „Der dachte wohl, ich mach jetzt einen Rückzieher.“ Dann rief das Eurotransplant-Zentrum noch einmal an. Überreden wollte man ihn nicht. Inzwischen hat sich Harry ein Jahr lang „nt“ stellen lassen, „nicht transplantabel“, er wird also keinen Anruf bekommen. „Nächstes Jahr entscheide ich endgültig und lasse mich runternehmen“, sagt er. Bis dahin lebt Harry wie Bolle.
Gesetzesentwürfe
An diesem Donnerstag stimmen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages ohne jeden Fraktionszwang über die Zukunft der Organspende ab. Zur Disposition stehen zwei konkurrierende Gesetzentwürfe.
Widerspruchslösung: Jeder Bürger ist Organspender, soweit er nicht widerspricht und dies in einem Zentralregister dokumentiert. Im Zweifelsfall entscheiden die Angehörigen – mit der Beweislast, dass der Betroffene kein Spender sein wollte. Initiatoren des Entwurfs: Jens Spahn (CDU) und Karl Lauterbach (SPD).
Weiterentwicklung Zustimmungslösung: Ausdrückliche Zustimmung nach regelmäßiger Befragung der Bundesbürger und Dokumentation in einem bundesweiten Onlineregister. Initiatorinnen: Annalena Baerbock (Grüne) und Katja Kipping (Linke), unterstützt von den ehemaligen Gesundheitsministern Ulla Schmidt (SPD) und Hermann Gröhe (CDU).
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