Ideenlose Kanzlerschlächter

Kommentar Opposition gegen die Agenda 2010

Ach, wie war es doch vordem, in Kriegeszeiten so bequem, mag derzeit manch gebeuteltes Regierungsmitglied denken und der kurzen Ära uneingeschränkter Solidarität mit dem Kanzler nachtrauern. Nun ist die Atempause zu Ende und das einig Regierungsvolk zerfällt in Kanzlerwächter und Kanzlerschlächter. Der Streit um die Agenda 2010 treibt sozialdemokratischen Bodensatz auf und läutet das vielleicht letzte Gefecht einer Partei ein, für die soziale Gerechtigkeit einmal zum politischen Essential gehörte, der aber, wie letzte Umfragen behaupten, immer weniger Leute zutrauen, dafür einzustehen.

Im letzten Fähnlein der linken Sozialdemokratie grimmt nun das schlechte Gewissen; und am Wochenende haben sich 70 Grünen-Vertreter getroffen und den SPD-Rebellen angeboten, gemeinsame Kampftruppen aufzustellen. Dabei hatte doch Renate Künast noch vor Wochenfrist öffentlich erklärt, bei den Grünen sei "das Ziel klar" und man rede "nur noch über Details". Aber dafür hätte es ja eigentlich keines Sonderparteitags bedurft.

Nun ist es nicht sonderlich schwierig, dem Reformprogramm des "auf den Hundt gekommenen Kanzlers" (so ein Leserbriefschreiber in der FR) nachzuweisen, dass es sozial ungerecht und arbeitsmarktpolitisch wenig wirkungsvoll sein wird. Die Begrenzung des Arbeitslosengeldes auf ein Jahr, die Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau gekoppelt mit einer de facto eingeführten Arbeitspflicht und einem aufgeweichten Kündigungsschutz öffnet dem neoliberalen Job-Floating alle Schleusen.

Allerdings sucht man bei den auf parlamentarisches Procedere eingestimmten sogenannten "Rebellen" in beiden Lagern vergeblich nach intelligenten Alternativen. Ihr Lieblingskind, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, wäre zwar gerecht, hätte aber kaum strukturpolitische Auswirkungen. Den Kanzler der Lüge zu zeihen, weil er Wahlversprechen bricht, ist müßig. Investitionsprogramme der Kommunen? Ein Notnagel. Ausbildungsabgabe? Sinnvoll, um den Jugendlichen überhaupt eine Berufsausbildung zu ermöglichen. Aber danach?

Gefällige Imagepflege allenthalben. Doch wo bleiben die in den achtziger Jahren heftig diskutierten Konzepte, die die veränderte Arbeitsgesellschaft als Ganzes in den Blick nahmen, für intelligente Arbeitszeitverkürzung fochten und unbezahlte gesellschaftliche (Haus-)Arbeit in den Mittelpunkt rückten? Wo wird noch über Umverteilung von Arbeit und Einkommen gestritten, außer darüber, dass den Ärmsten nun noch einmal in die Tasche gegriffen wird? "Neue Produkte" und "neue Märkte", wie die Gewerkschaften fordern, sind nicht die Alternative. Der Kanzler stellt den Sozialstaat zur Disposition. Wenn es die roten und grünen Rebellen wirklich Ernst meinten, müssten sie das mit dem Kanzler tun - ihn zur Disposition stellen.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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