Im Auftrag der Volksgesundheit

Invasiver Blick Pünktlich zum 60. Jahrestag der Nürnberger Ärzteprozesse zeigt das Dresdener Hygienemuseum die weltweit berühmte Ausstellung "Tödliche Medizin"

Vor 60 Jahren, am 25. Oktober 1946, begann in Nürnberg der Ärzteprozess, in dem die nationalsozialistischen Medizinverbrechen verhandelt wurden. Die Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW) erinnern am heutigen Freitag auf ihrer Jahrestagung an das Ereignis. Und seit vergangener Woche zeigt das Deutsche Hygienemuseum Dresden erstmals außerhalb der Vereinigten Staaten die Ausstellung "Tödliche Medizin" des renommierten Holocaust Memorial Museum in Washington.

In den frühen achtziger Jahren entbrannte zwischen dem Münchner Zeithistoriker Martin Broszat und seinem in Israel lebenden Kollegen Saul Friedländer ein Zuständigkeitsstreit, der in die Annalen der Geschichtswissenschaft eingegangen ist. Broszat vertrat damals die Auffassung, dass die Geschichte des Nationalsozialismus und insbesondere des Holocaust eine möglichst kühle, distanzierte Herangehensweise verlange. Deshalb glaubte er, die jüdischen Opfer, die sich wie Friedländer als Überlebende oder als deren Nachkommen mit der Geschichte ihres Volkes befassten, seien aufgrund ihrer besonderen Betroffenheit nicht fähig, eine "allgemeine" Geschichte des Holocaust, die sowohl Täter als auch Opfer gleichermaßen in den Blick nimmt, zu schreiben. Schon damals wollte Friedländer sich nicht auf die, wie es Broszat nannte, nur "mythische Erinnerung an die Opfer" verpflichten lassen und widersprach diesem Diktum heftig.

Die groß angelegte Geschichte der Juden im Dritten Reich, deren zweiten Band Friedländer kürzlich im Jüdischen Museum in Berlin vorgestellt hat, widerlegt den einstigen Kontrahenten posthum. Friedländer ist das Kunststück gelungen, eine integrierte Geschichte des Holocaust zu schreiben, die den Vernichtungsfeldzug der Nazis verfolgt - die Entscheidungen der Täter ebenso wie die Kollaboration in den besetzten Gebieten - und der es dennoch gelingt, die Opfer sprechen zu lassen. Als Quelle dienen Friedländer die überlieferten zeitgenössischen Tagebücher, die auf der Mikroebene das komplizierte Zusammenspiel zwischen den verfolgten Juden und den sie umgebenden Bevölkerungen transparent machen.

Was aber, wenn die Opfer ihr "Geheimnis" nicht preisgeben können, ihr Fühlen und Hoffen, ihr Entsetzen angesichts des alltäglichen Grauens nicht dokumentiert ist, sei es, weil es sich um Kinder handelte oder um psychisch kranke, behinderte oder anderweitig gehandicapte Menschen, die nicht schriftlich Zeugnis ablegen konnten? Und die als Erste, noch vor den Juden, ins Visier der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik gerieten.

Vor diesem Problem stand das für die Opfersicht gewiss prädestinierte Washingtoner United States Holocaust Memorial Museum, als es in den neunziger Jahren begann, die Geschichte der Medizin-Morde im Nationalsozialismus aufzuarbeiten und in einer Dauer-Ausstellung zu präsentieren. Sattsam bekannt sind die Täter, vom Reichskommissar für Gesundheit, Karl Brandt, über die zahllosen Forscher an den Kaiser-Wilhelm-Instituten bis hin zu SS-Ärzten wie Josef Mengele. Die Verbrechen und die skandalösen Nachkriegskarrieren der nationalsozialistischen Ärzte und ihrer wissenschaftlichen Handlanger wurden in den letzten Jahrzehnten gut aufgearbeitet, nicht zuletzt auf Initiative der Ärzte gegen den Atomtod (IPPNW), die dem Nürnberger Ärzteprozess (1946/47) auf ihrer diesjährigen Tagung breiten Raum einräumen.

Doch dem Holocaust Museum ging es wie Friedländer auch darum, die "große" Geschichte aus der Sicht der mehr als 200.000 Patienten und Patientinnen zu erzählen, die in Krankenanstalten getötet wurden. Über 70.000 "Schwachsinnige", "Fremdrassige", Homosexuelle oder psychisch Kranke fielen zwischen 1940 und 1941 alleine der berüchtigten T4-Aktion (genannt nach der Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4) zum Opfer. Die in den sechs "Euthanasie"zentren des Reiches eingesetzten Vergasungsanlagen galten als Übungsfeld für die spätere "Endlösung".

Eines dieser Zentren, die ehemalige Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein, lag unweit von Dresden. Unter der ärztlichen Verantwortung von Hermann Paul Nitsche (einer der 1947 zum Tode Verurteilten) wurden dort innerhalb von zwei Jahren an die 14.000 Psychiatriepatienten und über tausend Häftlinge aus verschiedenen Konzentrationslagern in den als Duschräume getarnten Gaskammern umgebracht. Ein Drittel des Mordpersonals von Sonnenstein war später, nachdem Hitler die T4-Aktion mit Rücksicht auf innenpolitische Widerstände einstellte, in den Vergasungsanlagen von Belz`ec, Sobidor und Treblinka beschäftigt.

Das in der sächsischen Landeshauptstadt ansässige, 1912 gegründete Deutsche Hygienemuseum (DHMD) war zwar nicht unmittelbar in die Krankenmorde verwickelt, doch seine Geschichte ist untrennbar mit der Geschichte der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik verbunden. Die Einrichtung diente sich 1933 nicht nur willfährig den neuen Machthabern an, sondern sie stellte schon im Jahrzehnt zuvor die Gesundheitsaufklärung in den propagandistischen Kontext der Erbbiologie und Eugenikbewegung. Was vor dem Hintergrund der katastrophalen sozialen Situation nach dem Ersten Weltkrieg noch als Aufwertung" des "Genpools" verstanden und teilweise durchaus auch von linken Sozialreformern unterstützt wurde, entwickelte sich unter dem Kuratel der Nazis zu einem Aussonderungs- und Vernichtungsprogramm, an dessen ideologischer Unterfütterung das Museum Anteil hatte.


So ist es ein Politikum erster Güte, dass sich das Holocaust Memorial und seine Direktorin Sara Bloomfield ausgerechnet für das Deutsche Hygienemuseum entschied, um erstmals außerhalb Nordamerikas, im Täterland und in einer Täterinstitution, die Ausstellung Tödliche Medizin zu zeigen. Die hochkarätig besetzte Eröffnungsfeier - unter anderen mit Innenminister Wolfgang Schäuble als Festredner - signalisiert die hohe politische Bedeutung des Ereignisses. Es sei einfach, so Bloomfield, sich heutzutage von der mörderischen Selektionspolitik der Nazis abzugrenzen; der Ausstellung gehe es jedoch auch darum zu zeigen, wie sich eine wissenschaftlich gestützte Ideologie kollektiv verankern kann und sich mit ihr das Leben verändert.

Wenn sich diese Ideologie ein "Zeichen" geschaffen hat, dann ist es der "gläserne Mensch". Schon in der Vorkriegszeit in den Werkstätten des DHMD gefertigt und in alle Welt exportiert, zeugt er von der Vorstellung, der Mensch sei ein transparentes Objekt, das beobachtet, vermessen, bewertet und nach Belieben zugerichtet werden kann. Mittels Skalen, Zahlen und Daten wurde der menschliche Leib kolonisiert und domestiziert, der invasive Blick auf und in den Körper war die Voraussetzung für seine spätere rassistisch motivierte Aussortierung. Was nicht ins Bild, den die Rasse-Kartografen vom idealen "Volkskörper" entworfen hatten, passte, gehörte nicht dazu, wurde entweder zwangssterilisiert oder liquidiert.

Ein Modell des "gläsernen Menschen" leitet auch die Dresdener Ausstellung ein und ihm folgt ein Zitat von Karl Binding und Alfred Hoche, beide 1920 bereits Propagandisten für die Freigabe "lebensunwerten" Lebens zur Vernichtung: Die Welt, so heißt es da, sehe zutiefst erschüttert auf die kriegsbedingte "Opferung des teuersten Gutes der Menschheit auf der einen" und auf die "größte Pflege nicht nur absolut wertloser, sondern negativ zu wertender Existenzen auf der anderen Seite." Ein Jahr später erscheint der mehrfach aufgelegte Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, die nach ihren wissenschaftlichen Autoren kurz Baur/Fischer/Lenz genannte Eugenik-Bibel der Weimarer Republik. Sie wird nicht nur den Nazi-Ideologen gute Dienste leisten; die Eugenik-Bewegung war eine durchaus internationale Erscheinung.


In der Weimarer Zeit stand die Erbbiologie und Rassenhygiene allerdings noch im Zentrum einer aktuellen Debatte: des "Kampfes um die Geburtenrate". Die Sorge um den Substanzerhalt des "deutschen Blutes" richtete sich damals zwar nicht auf marode Sozialkassen, erfand aber ganz ähnliche Denkfiguren: Deutsche, meist besser ausgebildete Frauen, die auf Kinderreichtum verzichteten; "Überfremdung" durch "Bastarde", die Belastung der Haushalte durch unproduktive "Asoziale" und Kranke. Letztere wurden - noch! - hinter Anstaltstüren versteckt. Der Blick durch das vergitterte Fenster oder durch eine Originaltür versucht den Ausstellungsbesuchern diese Lebensrealität zu vermitteln.

"Wir müssen ein gesundes Volk besitzen, um uns in der Welt durchzusetzen", wird Hitler zitiert. Böse, wer da an gegenwärtige Standortdiskussionen denkt; oder angesichts einer nach der T4-Aktion aufgestellten "Ersparnisrechnung" an gegenwärtige Diskussionen um Gesundheitsrationierung. Es sind solche, manchmal eher versteckte Exponate, die zu Stolpersteinen werden. Denn der Chor der Opfer bleibt weitgehend stumm. Wissenschaftliches Schrifttum, medizinische Gerätschaften und viel Propagandamaterial wie der kurze Filmstreifen, der eine "Übungsvergasung" zeigt. Ansonsten eine Flut von Fotos, Bilder von Tätern, Porträts von Ermordeten, die berühren, die aber um so gesichtsloser erscheinen, je massenhafter sie hinter Zäunen und Mauern zusammen- und in den Tod getrieben werden.

Welche Ausstellungsästhetik vermag den Schmerz, die Angst, das Grauen einzufangen, die diese Menschen ertragen und ausgestanden haben mögen und die so wenige Zeugnisse hinterlassen konnten? Nur einige Ausgewählte verschafften sich künstlerisch Ausdruck wie Franz Karl Bühler oder Gertrud Fleck, nur wenige haben überlebt und können rückblickend erzählen, was ihnen widerfuhr. Was bleibt, ist der Kamm, eine Tasse oder ein Amulett aus dem Besitz der Toten, die aus der Asche der Verbrennungsöfen geborgen wurden.

Ein weiteres Problem der Ausstellung ist, dass die Verbindung von der sozialhygienisch orientierten "positiven" Eugenik über die Zwangssterilisationsmaßnahmen, die Kinder"euthanasie" und die T4-Aktion ganz gradlinig bis in die Vernichtungsfabriken in Ostpolen reicht. Die "Endlösung" der "Judenfrage" erscheint so wie eine selbstverständliche Folge aller anderen rassistisch motivierten Liquidationsprogramme davor.


Dem würde Saul Friedländer vehement widersprechen. Im Unterschied zu den Kranken und "Andersartigen", die zwar Kosten verursachten und das "deutsche Blut" gefährdeten, verstand Hitler die Juden als aktiven Feind, der das Reich zu vernichten beabsichtigte. Nur aus dieser Logik heraus sei die Intensität des Antisemitismus und die Brutalität der Judenverfolgung zu erklären. Sie gehorchte keiner nur "rationalen" Begründung und war damit auch kein nur quantitativ exponiertes Phänomen.

Das nach wie vor Beklemmende im Hinblick auf die Ärzteverbrechen bleibt, dass der Patienten-Genozid medizinisch motiviert war. Der Täter spaltete sich nicht in einen "guten" Heiler und einen "bösen" Mörder, sondern er vernichtete im Namen der Gesundheit, das Morden gehörte zum Heilen, war integraler Bestandteil der Profession. Das erklärt die enthusiastische Dynamik des Mordgeschäfts weit über den staatlich verordneten Zeitrahmen hinaus. Wie man heute weiß, sogar bis weit nach dem Krieg, als man Psychiatriepatienten einfach verhungern ließ, weil man sie für die beschränkten Nahrungsmittel nicht wert befand.


Tödliche Medizin. Rassenwahn im Nationalsozialismus. Eine Ausstellung des United States Holocaust Memorial Museum Washington, im Deutschen Hygienemuseum Dresden bis zum 24. Juni 2007. Der englischsprachige Katalog Deadly Medicine ist für 29,90 Euro erhältlich. Wissenschaftliches Begleitprogramm und Veranstaltungen, Besucherservice und weiteres unter www.dhmd.de.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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