Wir haben eine Methode entwickelt, die darauf abzielt, ein gesundes und glückliches Leben zu garantieren. Frei von Schmerz und Leid.“ Die „Methode“ steht in Juli Zehs kürzlich erschienenem Erfolgsbuch Corpus Delicti für die Gesundheitsverfassung eines „Wächterstaates“, der die biologischen Funktionen seiner Bewohner vollständig überwacht und all jenen den Prozess macht, die sich dem Befehl, sich immunologisch abzuschotten, entziehen.
Mia Holl gerät ins Visier dieses in die Zukunft projizierten totalen Präventionsstaates, nachdem sich ihr Bruder Moritz dem Gesundheitsterror entzogen hat, als „Methodenfeind“ verurteilt wird und Selbstmord begeht. „Der Mensch muss sein Dasein erfahren. Im Rausch. Im Scheitern. Im Höhenflug.“, begegnet Moritz kurz vor seinem Tod dieser den letzten Lebensnerv regulierenden Gesundheitsdiktatur. Und „das Leben ist ein Angebot, das man auch ablehnen kann.“
Die in Zehs Science Fiction ausschließlich auf den Körper konzentrierte technologische Vernunft enthält ein Entlastungsversprechen, das die Moderne – lange bevor die medizinischen Angebote der Selbstverbesserung einem breiteren Publikum zugänglich wurden – in ihrem Gepäck führte: Eine schmerz- und angstfreie Existenz. Bereits vor einem Vierteljahrhundert hatte der Philosoph Peter Sloterdijk die zynischen Rituale der Schmerzverleugnung seziert, die sich in den intellektuellen Trainingslagern nach dem Ersten Weltkrieg ausgebildet hatten, und sie zugleich als Einverständnis mit und Aufstand gegen die Zumutungen der technischen Zivilisation gedeutet. Die Versuchsszenarien der Schmerzresistenz – vom nihilistischen Kriegspathos eines Ernst Jünger über den vielstimmigen Chor der Technikverherrlichung bis hin zu den Maskenspielen der Hochstapler – überforderten indessen auch die Probanden und dementierten sich selbst.
Die anthropologische Inspektion hat den an die akademische Randzone der Karlsruher Kunsthochschule verwiesenen Sloterdijk nie losgelassen. Doch abgesehen vom Skandalgipfel im Jahre 1999, als er sich mit den Regeln für den Menschenpark zum gentechnischen Optimierer der Gattung aufwarf, fanden seine zeitdiagnostischen Traktate nur geringe Resonanz. Ein für den Autor glücklicher zeitlicher Zufall will es nun, dass seine ans breitere Publikum adressierte Trainingsanweisung in eine epochale Krise fällt und auf ein auf pädagogische Zucht- und Erbauungsliteratur eingestimmtes bildungsbürgerliches Publikum trifft. Denn die im Zuge der Globalisierung bis in die Mittelschichten fortgepflanzte Gier ist einem moralischen Kater gewichen, die übende Ein- und Umkehr fordert: Du musst dein Leben ändern. Aufstörender als Rilke in der Endzeile seines berühmten Gedichts Archäischer Torso Apollos hätte es auch der Guru-Philosoph nicht erfinden können.
Ethik des Unmöglichen
Die neue Ethik, die Sloterdijk seiner Leserschaft andient, übt den Ernstfall. Schluss mit dem intellektuellen Eskapismus, Schluss mit den selbstbezüglichen Diskursen und Schluss vor allem mit dem bequemen Rückzug auf Religionen, die allesamt auf einem grundlegenden Irrtum beruhen: Sie sind nicht mehr als missverstandene spirituelle Übungssysteme, mittels derer sich die Menschheit nach außen hin abdichtet. Dagegen gilt es, den Menschen auf das Niveau seiner Möglichkeiten zu heben und auf „Augenhöhe mit der Weltlage“, nun, wo der Realitätsdruck dramatisch wird und das „Frivolitätszeitalter“ mit seinen „Leichtsinnsenergien“ unwiederbringlich vorbei ist. Die „neue Ethik des Unmöglichen“ ist zu verschmelzen mit den alteuropäischen Askesen der Überforderung, mit einem ultimativen Appell zur kathartischen Kehre: Übe immer so, dass dich das Training ein Stück weit überfordert und andere zur Nachahmung anspornt.
Was es erlaubt, das über 700-seitige mäandernde Konvolut, in dem die 3000-jährigen Globalbestände intellektueller Exerzitien besichtigt werden, mit dem vergleichsweise bescheidenen futuristischen Tribunal Juli Zehs in Verbindung zu bringen, findet sich bei Sloterdijk im Kapitel „Exerzitien der Moderne“ unter dem Stichwort „Oktoberrevolution“. Gemeint ist damit nicht etwa das politische Ereignis in Russland – obwohl auch das unterm Vorzeichen der radikalpolitischen Übungen des Umsturzes breitflächig erledigt wird –, sondern die am 16. Oktober 1846 im Massachussetts General Hospital erstmals zum Einsatz gekommene Äthernarkose, das „Schlüsseldatum in der Geschichte des operablen Menschen“.
Mit der anästhetischen Stillstellung verbindet Sloterdijk mehr als nur die somatische Schmerzabwehr. Die Narkose versetzt den Menschen in eine Trainingszone, die ihn von vom Zwang des in der Welt Seins suspendiert, um der heilenden Operation willen an sich selbst. Sie bedeutet Schmerz neutralisierende „Gelassenheit der letzten Stufe“. Was der stetig übende Mensch in den asketischen „Systemen der Religionen“ begonnen hat, nämlich sich auf eine ethische „Vertikalspannung“, die ihn über sich selbst hinausträgt, einzulassen, wiederholt sich im pädagogischen Furor der Aufklärung und in der Kunst(religion), um schließlich im Sport auf seine massenwirksame Tauglichkeit getestet zu werden. Der Zwang ins lebenslange Übungskorsett – und Askesis bedeutet nichts anderes als Übung – immunisiert die Gattung gegen jede Art von Verletzung und treibt sie aufs gespannte Seil der Existenz: „Wer Menschen sucht, wird Akrobaten finden.“
Homo immunologicus
Im Gegensatz zum „Mängelwesen Mensch“, das nach Arnold Gehlen seine Defizite mittels technischer Prothesen oder institutioneller Krücken kompensiert, ist Sloterdijks „homo immunologicus“ also ein frei schwebender Seilkünstler mit deutlichem Zug nach oben. „Die Fortsetzung der biologischen Evolution führt in der sozialen und kulturellen zu einer Aufstufung der Immunsysteme.“ Aus Nietzsches rachelustiger Erledigung des Christentums, nach der „kein Mensch mehr das Recht hat, nichts oder wenig aus sich zu machen“, und dem im 19. Jahrhundert kreierten und in alle Leitdiskurse eingewanderten Begriff der Immunologie schöpft Sloterdijk die rhetorische Energie, den Menschen aus seinen selbstgenügsamen Bewegungslagen zu reißen und aufs Trapez zu stellen.
Du musst dein Leben ändern ist die wiederholte Aufforderung, mit dem Gewohnten zu brechen und das Unmögliche zu wollen, sei es in den Klöstern in der Anverwandlung mit Christus, bei den buddhistischen Meistern oder in den politischen Trainingsanstalten der Revolutionen, aus denen Sloterdijk, wenn nicht ihre Absichten und Ziele, so doch einen Schlüsselbegriff übernommen hat: „Anthropotechnik“ geht auf den radikalen russischen Biofuturisten Valerian Mourajev zurück.
Anthropotechnik bedeutet übende Praxis ebenso wie technische und genetische Selbstoptimierung. Nach den Prügeln, die Sloterdijk für die genetische Aufhübschung der Gattung im Menschenpark-Essay bezogen hat, rückt er letztere allerdings aus den verminten Übungsfeldern und betont – im Unterschied zu den klösterlichen und aufgeklärten Zuchtmeistern – immer wieder das nicht-hierarchische Verhältnis zwischen „Trainern“ und sportiven Eleven. Dass bereits die Transponierung der Geschichte in eine „Allgemeine Immunologie“ – „alle Geschichte ist die Geschichte von Immunsystemkämpfen“ – spannungsgeladene Leitunterscheidungen wie „gesund“ und „krank“, „vertikal“ und „horizontal“ oder „vital“ und „letal“ impliziert und auch nicht jeder das Zeug zu Kafkas Hungerkünstler hat, übersieht Sloterdijk geflissentlich.
Überhaupt scheint die Idee vom aristokratischen Geisteshirten, der seine Schäflein auf den Weg des Besseren führt und sie durch züchtende Eingriffe optimiert, nicht ganz erledigt. Man muss gar nicht die auffällige Faszination Sloterdijks für den biopolitischen Utopismus in Russland oder seine implizite Verteidigung aufbessernder Eugenik ins Feld führen oder sich an den technophilen Metaphern und am biopolitischen Begriffsarsenal stoßen. Es genügt, den Relektüren seiner Gewährsleute zu folgen, des konkurrenzlosen Nietzsches sowieso, aber auch Wittgensteins oder Foucaults, deren grundsätzlichen Trainerqualitäten für die amorphe „Masse“ im „Basislager“ er rühmt.
Bewohner der Wächterhäuser
Schelm wäre allerdings, wer vermutete, dieses Gesamtkunstwerk zur „anthropotechnischen Wende“ wäre, wie schon der Menschenpark, noch einmal als Giftpfeil in Richtung Kritischer Theorie Habermasscher Prägung abgeschossen worden. Tatsache ist, dass nicht nur der inkriminierte Essay von 1999, sondern auch diese Basalethik pünktlich zu einem runden Geburtstag des Adorno-Nachrückers erschienen ist. Die Affekte gegen den Frankfurter Meisterdenker kommen heute zwar etwas subtiler, aber keineswegs weniger bösartig daher.
Den „mittleren Lagen“ des selbstgenügsamen Bewussteinseins pariert Sloterdijk mit dem Furor der ethischen Differenz, die den Zwang zur lebenslangen Selbstformung einschließt. Dieses immunitär ausgerichtet Selbstkonzept des Menschen will er ausgeweitet sehen zu einer effizienten „Ko-Immunität“ mit „Ordensregeln“, die die Anthropotechniken – von der Geburtenkontrolle bis zu den Prozeduren der neuronalen Selbststeuerung – zeitgemäß codieren.
Den „Protektionismus des Ganzen“ allerdings nimmt auch Juli Zehs Gesundheitsstaat für sich in Anspruch, und seine fortgeschrittensten Teile – die Bewohner der so genannten Wächterhäuser – stehen durchaus in der Sloterdijkschen „Vertikalspannung“, die die „Vernunft des Lebens“ (Zeh) fordert. Das öffentliche und persönliche Wohl in Deckung zu bringen, ist nur um den Preis totaler Überwachung zu haben, bei Strafe lebenslanger Resozialisierung von Methodenfeinden: „Bestellen einer Aufsichtsperson. Medizinische Überwachung. Alltagstraining.“ Und Mia Holl weiß: „Jetzt ist wirklich alles zu Ende.“
Du musst dein Leben ändern: Über Religion, Artistik und AnthropotechnikPeter Sloterdijk. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, 723 S., 24,80
Corpus Delicti: Ein ProzessJuli Zeh. Schöffling Co., Frankfurt am Main 2009, 263 S., 19,90
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