Folgt man neueren Umfragen, so wären 70 Prozent der Deutschen dafür, die aktive Sterbehilfe - das heißt, einem unheilbar Kranken auf dessen Verlangen tödliches Gift zu verabreichen - zu erlauben. Überraschend wenig Bedenken gibt es in der Bevölkerung auch im Hinblick auf die Präimplantationsdiagnostik (PID), bei der Embryonen vor der Einpflanzung in die Gebärmutter auf chronische Krankheiten untersucht und gegebenenfalls ausgesondert werden. Obwohl aktive Sterbehilfe und PID - außer, dass in Deutschland beides verboten ist - auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben, lässt sich die positive Einstellung offenbar darauf zurückführen, dass in beiden Fällen das Selbstbestimmungsrecht (über den eigenen Tod beziehungsweise über den Nachwuchs) gegenüber ethischen Überlegungen ausschlägt.
Wünsche und Werte
So gesehen, scheint das, was in den letzten Jahren in den diversen Ethikgremien an Empfehlungen gegeben wurde, vielfach hinter den realen Wünschen der Menschen hinterher zu hinken. Oder, um es mit dem Ethikrat Wolfgang van den Daele zu formulieren, "die Rechtstradition folgt häufig einem Elitekonsens, der nicht durch die Werteorientierungen der Bevölkerung gedeckt ist" und, wenn man so will, diese paternalistisch bevormundet. Sollten sich Ethikberater künftig also stärker am Willen der Menschen orientieren und ihre Ratschläge "lebensweltlicher" ausrichten, wie kürzlich die Wochenzeitung Die Zeit empfahl? Oder ist der von van den Daele konstatierte "Wertepluralismus" nicht vielmehr ein Indiz dafür, dass eine auf Nützlichkeit und individuelle Optimierung gerichtete Ethik die kontinentaleuropäische Rechtstradition unterläuft und erodiert?
Um die Ethikgremien in der Bundesrepublik ist in den vergangenen Monaten eine neue Debatte entbrannt. Nachdem mit dem Ende der 15. Legislaturperiode auch der Auftrag der Enquete-Kommission "Recht und Ethik in der modernen Medizin" erlosch und eine Neuauflage nicht aussichtsreich schien, andererseits der umstrittene Nationale Ethikrat für eine neue Amtszeit bis 2009 bestätigt wurde, streiten Regierung und Parlament um die Einrichtung eines neuen Ethik-Komitees (vgl. Freitag vom 3. 2. 2006). Den Plan eines eng an das Parlament angebundenen Beratungsgremiums, der von der Grünen-Fraktion, Abgeordneten der SPD, der Linkspartei und vereinzelt sogar aus der Union unterstützt worden war, hatte Forschungsministerin Annette Schavan in einem sommerlichen Alleingang durchkreuzt. Ohne Absprache mit dem Koalitionspartner arbeitete ihr Ministerium ein Gesetz aus, das den Nationalen Ethikrat in einen Deutschen Ethikrat transformieren und nachträglich parlamentarisch legitimieren soll. Am Donnerstag ging der Entwurf ins Parlament, doch dass er es in seiner ursprünglichen Form passiert, ist mehr als fraglich.
Denn nicht nur Vertreter der Grünen stoßen sich daran, dass der künftige Rat sozusagen vor den Toren des Parlaments angesiedelt bleiben soll. Im Unterschied zur Enquete, die je zur Hälfte aus Experten und Parlamentariern bestand, sollen im 24-köpfigen Ethikrat weiterhin nur Sachverständige sitzen, die zur einen Hälfte von der Regierung und zur anderen von den Abgeordneten berufen werden. Das sehe zwar "großzügig" aus, sei aber ein Problem, so Reinhard Loske von den Grünen, weil sich die Regierung innerhalb der großen Koalition eine doppelte Mehrheit sichere. Durch die "Pseudo-Beteiligung" des Parlaments rechtfertige sie außerdem ihren "biopolitischen Monopolanspruch".
Berufungsrecht des Parlaments
Das Berufungsrecht einer Einrichtung, die das Parlament beraten soll, kritisiert auch der ehemalige Enquete-Vorsitzende René Röspel (SPD) gegenüber dem Freitag, könne ohnehin nicht bei der Regierung liegen, sondern ausschließlich beim Parlament. Nicht einzusehen sei außerdem, weshalb Abgeordnete, die am Ende ja auch über die Gesetze entscheiden müssen, aus dem Gremium ausgeschlossen blieben.
Auf dieser Linie argumentiert auch der ursprünglich als Gruppenantrag formulierte, nun allerdings nur noch von den Grünen eingebrachte Antrag, ein beim Bundestag angesiedeltes Ethik-Komitee zu schaffen. Er bezieht sich ausdrücklich auf eine Empfehlung des Bundespräsidenten und weiß sogar die Kanzlerin auf seiner Seite, die vor Jahresfrist noch öffentlich erklärt hatte, dass Entscheidungen über Fragen der Bioethik und der modernen Medizin ins Parlament gehören und dort vorbereitet werden sollten. Nur ausnahmsweise habe sich "die Politik auch einmal einen Rat von außen zu holen". Das war im Juli 2005, als es der Union noch opportun schien, Schröders "Kanzler-Rat" zu geißeln.
Der geplante Deutsche Ethikrat wird entgegen diesen Vorstellungen nun doch wieder fernab vom Parlament operieren - und abseits der Öffentlichkeit. Denn im Vergleich zum heutigen Gremium werden die Plenarsitzungen nicht mehr - oder nur noch in Ausnahmefällen - öffentlich stattfinden und Tagesordnungen brauchen nicht mehr offen gelegt werden. Der Rat ist gegenüber dem Parlament nicht rechenschaftspflichtig, sondern leitet den Abgeordneten seine Stellungnahmen lediglich "zur Kenntnisnahme" zu. Das sei, so Loske, um so bedenklicher, als der Rat mit rund zwei Millionen Euro auch weiterhin aus den Mitteln der ethischen Begleitforschung, das heißt aus dem Bundeshaushalt, finanziert würde.
Koalitionsräson
Doch weshalb wird der Gruppenantrag nicht wie geplant von den Abgeordneten der anderen Fraktionen, vorab der SPD, mitgetragen? Formell, so René Röspel, sei Fraktions-Chef Struck davon informiert gewesen, doch bis heute stehe die Entscheidung der Fraktionsspitze aus. Wohl deshalb, weil Unions-Partner Volker Kauder "die Sache von Anfang an sehr hoch gehängt" und den Schavan-Entwurf als "koalitionsentscheidend" erklärt habe. Weil nach dem "Struckschen Gesetz" aber kein Gesetz der großen Koalition das Parlament so verlasse, wie es eingebracht wurde, hegt Röspel noch Hoffnung. Signalisiert die Union allerdings nicht "erhebliche Kompromissbereitschaft", wollen er und rund 70 weitere SPD-Mitstreiter doch den Antrag der Grünen unterstützen. Dann wäre der nächste Koalitions-Krach programmiert.
Die Erfahrungen aus einer Legion von Kommissionen und Räten der letzten Jahre gibt den Skeptikern des Schavan-Entwurfs Recht: Hätte Kanzler Schröder nicht Peter Hartz und Genossen oder Bert Rürup und seine Crew mit der Erneuerung der Sozialversicherungen beauftragt, sondern eine Parlaments-Kommission mit soliden Kenntnissen, dann wäre über den direkten Input mit Sicherheit nicht das gesetzgeberische Chaos entstanden, mit dem sich das Parlament heute herumschlägt und das auch durch "Machtworte" nicht mehr zu meistern ist. Dabei handelt es sich auch keineswegs um personelle Fehlleistungen, sondern um ein strukturelles Problem: Die von der Union beauftragte Herzog-Kommission war in ihrem Beratungseifer ja um kein Jota erfolgreicher.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die auf "Selbstaufklärung" bestehenden Parlamentarier nun ausgerechnet von einer Seite Schützenhilfe erhalten, die normalerweise nicht müde wird, das Expertentum über die Politik zu stellen. Ausgerechnet die Ärzte lassen via Ärzteblatt wissen, dass sie ein ständiges Ethikinstitut beim Bundestag begrüßen würden.
Das Problem demokratischer Ethikfindung scheint allerdings auch nicht dadurch behebbar, dass ein Ethikrat zugunsten eines Parlament-Komitees aufgelöst oder ein personaltechnischer Proporz gefunden wird. Welche Maßstäbe eine Gesellschaft für die sensiblen Phasen des Lebens - Geburt und Sterben - anlegt, lässt sich so wenig per Expertise verordnen wie durch Umfragen ermitteln. Doch von ihren Experten - die in glücklichen Fällen auch gute Politiker sein können - darf die Gesellschaft erwarten, darüber aufgeklärt zu werden, welche Folgen eine Entscheidung für oder gegen das Leben hat. Wenn der Rat der Räte indessen nur "unterschiedliche ethische Ansätze und ein plurales Meinungsspektrum" (Schavan-Entwurf) widerspiegelt, steht zu befürchten, dass sich ethische Standards im Werteplural auflösen. Und davor ist in der Tat auch ein Parlament nicht gefeit.
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