In der Gefahrenzone

Corona-Krise Nie waren die Anforderungen an die Pflegekräfte so groß – und die Stimmung so schlecht. Höchste Zeit, umzudenken
Ausgabe 46/2020
Das Krankenhaus ist durch Covid-19 zu einer unberechenbaren Gefahrenzone geworden. Wo aber bleibt die in anderen Branchen übliche Gefahrenzulage für die Beschäftigten?
Das Krankenhaus ist durch Covid-19 zu einer unberechenbaren Gefahrenzone geworden. Wo aber bleibt die in anderen Branchen übliche Gefahrenzulage für die Beschäftigten?

Foto: Ina Fassbender/AFP/Getty Images

Die Kampagne eines Ministeriums hat selten so viel Spott und Empörung heraufbeschworen wie die auf Youtube angelaufene Miniserie „Ehrenpflegas“. In der schönen neuen Pflegewelt des Familienministeriums tummeln sich der depperte, Sprüche klopfende Boris oder die Streberin „Harry Potter“ mit dem Auftrag, ihren Altersgenossen in angegrautem Jugendjargon den hippsten Beruf der Welt schmackhaft zu machen. Mit 1.000 Euro Ausbildungsvergütung fährt man in dieser Welt sogar ein eigenes schickes Auto. „Peinlich“ und „beleidigend“, urteilte das professionelle Umfeld, und weit entfernt davon, den anspruchsvollen Pflegealltag abzubilden. Inzwischen wurde die Ministerin aufgefordert, den Reklameclip zurückzuziehen.

Gemessen am Ärger, der Franziska Giffey (SPD) demnächst wegen der wieder aufgerührten Plagiatsvorwürfe bei ihrer Doktorarbeit droht, dürften die „Ehrenpflegas“ im Netzdunst verblassen. Doch weshalb sollten Jugendliche einen Beruf attraktiv finden, über den seit Oktober nur in alarmierenden Schlagzeilen berichtet wird? Wie nehmen sie wohl Nachrichten auf, wonach Beschäftigte in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen zu bis zu 60 Stunden Arbeit in der Woche verdonnert werden oder sie immer noch auf die Auszahlung des gefeierten Corona-Bonus warten? Werbewirksam ist das nicht. Und nachdem sich die Klatschenden von den Balkonen in die warme Stube zurückgezogen haben, bleiben die Helden der Arbeit an der Krankheitsfront auf sich selbst zurückgeworfen mit ihrer Dauerüberlastung, ihrem Frust und ihrer Angst, sich selbst zu infizieren.

Denn im Unterschied zur ersten Infektionswelle im Frühjahr, als es um fehlende Intensivbetten und ausbleibende Schutzkleidung ging, mangelt es heute nicht an Infrastruktur und Ausrüstung, sondern an Pflegenden, die in der Lage sind, an den eifrig gezählten Intensivbetten Dienst zu tun. Schon jetzt kann ein Fünftel davon nicht genutzt werden, weil bundesweit mehr als 4.000 Intensivfachkräfte fehlen. Wirklich überraschen dürfte das niemanden, es ist ein Debakel mit Ansage, das verdrängt wurde in der Hoffnung, über den Sommer würde sich das Virus abschwächen oder ein Impfstoff zur Verfügung stehen.

Das Gegenteil ist passiert: Die Infektionszahlen sind auf nie dagewesene Höhe geklettert, immer mehr Pflegekräfte erkranken an Covid-19 oder fallen aufgrund von Quarantänemaßnahmen aus. Daran ändert auch der gerade vom Mainzer Unternehmen Biontech in Aussicht gestellte Impfstoff nichts, denn seine Erprobung ist noch gar nicht abgeschlossen und bislang scheint unklar, ob Geimpfte das Virus dennoch weitertragen können. Sollte das Serum aber, wie angekündigt, zuerst dem medizinischen Personal verabreicht werden, könnte das neue Risiken heraufbeschwören. Mit genbasierten Impfstoffen gibt es nämlich keinerlei Erfahrungen, und Langzeitfolgen können in der Kürze der Entwicklungszeit ohnehin nicht erforscht werden.

Eine rasche Entlastung der Krankenhäuser ist davon jedenfalls nicht zu erwarten. Dort herrscht zunehmender Stress, weil Corona den Mitarbeitern immer neue Aufgaben aufbürdet wie die Durchführung von Schnelltests, weil Personaluntergrenzen ausgesetzt werden oder unzureichend ausgebildetes Personal von Normal- auf Intensivstationen „umgeschichtet“ wird. Uwe Janssens von der Deutschen Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin fordert sogar, Normalstationen ganz zu schließen. Das würde nicht nur die Regelversorgung gefährden, sondern auch die Existenz von Kliniken, die Einnahmen verlieren. Horrible Blüten treibt der Personalmangel im Behindertenbereich. In Bremen und Bayern ist man „in begründeten Härtefällen“ und „unter strengen Auflagen“ dazu übergegangen, positiv getestete Mitarbeiter bei der Betreuung von Covid-19-Patienten einzusetzen – ausgerechnet in Einrichtungen der Lebenshilfe, als ob dies dort hinnehmbar sei.

So ist das Krankenhaus durch Covid-19 zu einer unberechenbaren Gefahrenzone geworden. Wo aber bleibt die in anderen Branchen übliche Gefahrenzulage für die Beschäftigten? Wer fängt sie auf, wenn die physische und psychische Belastung zu groß wird? Nie, erklärt der Münsteraner Klinikchef Thomas van den Hooven, sei die Stimmung unter den Mitarbeitern so schlecht gewesen. Die Motivation, zeigt eine Umfrage, sinkt dramatisch, und viele denken darüber nach, nur noch Teilzeit zu arbeiten oder ganz aus dem Beruf auszusteigen. Schon macht wieder das böse Wort von der „Katastrophenmedizin“ die Runde.

Aus Sicht der Pflege, so van den Hooven, sei 2020 ein verlorenes Jahr gewesen, das weder Anreize für die Ausbildung noch bessere Vergütung gesetzt habe. Ein lehrreiches Jahr war es aus Sicht der Patienten und ihrer Angehörigen, die es als erste zu spüren bekommen, wenn zu wenig Gesundheitspersonal da ist und am Rande des Zusammenbruchs arbeitet. Studien aus China zeigen, dass die Überlebenschancen von Covid-19-Patienten sinken, wenn die sie versorgenden Pflegekräfte am Anschlag arbeiten. Es ist wahr: Kein Minister kann sich medizinische Fachkräfte aus den Rippen schneiden. Aber er kann dafür sorgen, dass mit den vorhandenen pfleglich umgegangen wird. Sie abzuspeisen mit einer Prämie, die am Ende ihren Weg nicht findet, oder sie in Anwerbefilmchen zu verhöhnen, treibt sie aus dem Dienst. Denn, so stellvertretend die Berliner Krankenpflegerin Nina Böhmer: „Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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