In der Sonne verglüht

Zukunftsentwurf Margaret Atwood wägt technische Zivilisation gegen das Wort - und schreibt die gute Tradition des Science-Fiction-Romans fort

Trash oder Erkenntnisgewinn, Trivialliteratur oder Seismograph einer zukünftigen Gesellschaft? Wer in den neu aufgelegten Grundzügen der Literaturwissenschaft, einem einführenden Standardwerk für das Grundstudium, nach der Gattung sucht, wird herb enttäuscht: Gerade ein einziger Verweis zu Science Fiction findet sich im Register, und dieser platziert das Genre eher in den Niederungen der Massenmedien denn als Teil der E-Literatur. Auch im ausführlich aufbereiteten Glossar sucht man den Begriff vergeblich. Philosophische oder literarische Utopie-Entwürfe, vor zwei Jahrzehnten noch den "Möglichkeitssinn des Subjekts" (Hiltrud Gnüg) verbürgend und prominente Quelle, die Auskunft über die negativen oder positiven Sozialutopien einer Gesellschaft gibt, sind als literaturwissenschaftlicher Gegenstand offenbar degoutant. Zukunft ist, um ein Bonmot Valérys zu bemühen, auch nicht mehr das, was sie einmal war.

Dass jede Zeit ihre eigenen Zukunftsentwürfe kreiert, ist dabei eine banale Erkenntnis. Natürlich hatten Morus oder Campanella noch kein mentales Instrumentarium, sich in eine Wells´sche Zeitmaschine zu versetzen; einem Wells wiederum waren die konkreten totalitaristischen Gesellschaften unbekannt, die George Orwell oder Aldous Huxley als Vorbild für ihre pessimistischen Szenarien dienten; und deren technische Überbietungsfiguren einer total formierten Gesellschaft waren ihrerseits nur spekulativ und konnten noch nichts ahnen von den gen- oder nanotechnologischen Möglichkeiten, wie sie etwa von einem Michael Crichton (Freitag 3/2003) in Szene gesetzt und in die Zukunft projiziert werden.

Bei allen zeitgenössischen Unterschieden scheint es jedoch auch einen geschlechtsspezifischen Zugang zum Genre zu geben. Das lässt sich unschwer bereits an den klassischen Homunculi-Phantasien einer Mary Shelley ablesen oder an Thea von Harbou, die, nur wenig bekannt, die Vorlagen für die berühmten Fritz-Lang-Klassiker (Metropolis, Frau im Mond) geliefert hat. Feministisch inspiriert präsentierte sich Anfang der zurückliegenden neunziger Jahre die amerikanische Autorin Marge Piercy - am eindrücklichsten mit ihrem mittlerweile in den Genre-Kanon eingegangenen Zukunftsroman Er, Sie und Es (1993). Das klassische, im Prager Ghetto des 16. Jahrhunderts verortete Homunculus-Motiv wieder aufnehmend, hat Piercy mit dem Cyborg Jod eine Figur geschaffen, die die festgelegten Grenzen überschreitet: die Demarkationslinie zwischen den Geschlechtern und Zeiten, zwischen Mensch und Maschine, zwischen Leben und Tod. Die beiden Erzählerinnen, Shira und ihre Großmutter Malkah, die in einer von Klimakatastrophen, Krieg und Bürgerkrieg bedrohten, abgeschotteten und hochtechnisierten Welt leben, stellen die Verbindung zwischen verbürgter Geschichte und entworfener Zukunft her. Jod, die Lichtgestalt einer von Leiden befreiten Existenz, zerstört sich am Ende selbst. Und Shira weiß, dass sie nicht einmal einen liebenden und geliebten Jod wieder auferstehen lassen darf.

Ein Dutzend Jahre später scheinen all diese fiktiven Versuchsanordnungen gar nicht mehr so zukünftig. Ein Dutzend Jahre später ist die hybride Verschmelzung von Tier und Mensch, von Mensch und Maschine in greifbare, be-greifbare Nähe gerückt. Vorstellbar sind die heftigen Stürme, die gleißend-vernichtende Sonne, die entnaturierte Nahrung, die allumfassende Überwachung, die tödliche Trennung zwischen ausgelieferten, gefährdeten und geschützten Zonen, die nicht mehr unterscheidbaren Zerrbilder von Realität und Fiktion. In gewisser Weise hat Margaret Atwood, bekannt vor allem durch ihre Geschichtsromane (Der Report der Magd, 1987) und ganz ähnlich wie Marge Piercy (etwa in Menschen im Krieg, 1996) eine Besessene historischer Wahrhaftigkeit, den Text ihrer Vorläuferin fortgeschrieben und überholt.

Oryx und Crake ist kein genuiner Science-Fiction-Roman, sondern, so paradox das klingt, ein gegenwartstauglicher Zukunftsentwurf. Er handelt auf zwei Zeitebenen: Zum einen erzählt "Schneemensch" im Rückblick von seiner Kindheit und Jugend in den hochgerüsteten "Industriekomplexen", die abgeschottet von "Plebsland", einem von Klimakatastrophen, Krankheit und Gewalt geprägten "Außen", existieren. "Schneemensch", der eigentlich Jimmy heißt, vegetiert in einer nach einer schrecklichen, aber von den "Industriekomplexen" in Kauf genommenen Katastrophe entvölkerten Welt, die er nur noch mit den "Crakern" teilt.

Jimmy ist der Letzte seiner Gattung und wird "Schneemensch" gerufen, weil er im Unterschied zu den Crakern in der brennenden Sonne verglüht und überhaupt Probleme hat, in der unwirtlichen Umgebung zu überleben. Für die Craker ist "Schneemensch" die einzige Verbindung zu ihrem Schöpfergott Crake und eine Art Prophet, der die "weißen Seiten" der Craker nach Belieben "beschreibt". Jimmy selbst wähnt sich - ganz ähnlich wie Malkah und Shira in Er, Sie und Es - als die letzte Instanz, die die Vergangenheit tradiert und den Kampf um die alten Bedeutungen führt - nur dass er nicht weiß, wem das noch nützen soll. "Sogar ein Schiffbrüchiger stellt sich einen künftigen Leser vor, jemanden, der irgendwann vorbeikommt, seine Knochen und Aufzeichnungen findet und von seinem Schicksal erfährt. Schneemensch kann nicht von solchen Annahmen ausgehen: Er wird keinen künftigen Leser haben, denn Craker können nicht lesen. Jeder Leser, den er sich vorstellen kann, ist Vergangenheit."

Alternierend erzählt Jimmy (alias Schneemensch) von seinem tagtäglichen Überlebenskampf und die Entstehungsgeschichte der Craker. Jimmy, Kind einer in ständiger Alarmbereitschaft stehenden, von Ersatzprodukten lebenden Gesellschaft, wächst privilegiert in den "Komplexen" auf. Doch während sich sein Vater, "Genograf" bei "OrganInc Farms" (vorstellbar als fortgeschrittene Dolly-Fabrik), an die gegebenen Verhältnisse anpasst und, schlechten Gewissens zwar, "Organschweine" (Nahrungs- und Organressource gleichermaßen) züchtet, wird Jimmys Mutter zur "Terroristin", die auf die andere Seite, in das unberechenbare Plebsland, überläuft. Jimmy, der schwer am Verlust der Mutter und ihrem ungewissen Schicksal leidet, schließt sich an Crake an, mit dem er durch die virtuellen Welten surft. Dort begegnen sie erstmals der halbwüchsigen Sexarbeiterin Oryx, in die sich beide später mit tödlichen Konsequenzen verlieben.

Doch Crake ist "etwas Besonderes", ein Crack mit Visionen: Ihm schwebt das "gute Leben" für alle vor: aggressionsfreie Menschen, die nicht krank werden, nicht altern und angstfrei sterben, die von Pflanzen und ihrem eigenen Kot leben, keine "gefährlichen Symbole" kennen, auch nicht die Leiden der Liebe und sich vollständig an ihre Umwelt anzupassen vermögen. Im Unterschied zu Jimmy, der alle Aussichten hat, ein zynischer, in der Hackordnung weit unten rangierender "Wortsklave" zu werden, steigt Crake in die schwindelnden Höhen der "Komplexe" auf. Dort kreiert er, abgeschirmt von aller Wirklichkeit, die ersten Muster der nach ihm genannten Craker. Oryx, die ihren Namen einer ausgestorbenen Antilopenart verdankt, obliegt es, diese zu schützen und zu lehren, sie ist der weibliche, freundliche Part in dieser Schöpfungsgeschichte.

Gleichzeitig entwickelt Crake eine grausame Seuche, die er mit Oryx Hilfe in Plebsland verbreiten lässt. Er provoziert damit ein Inferno, einen alles vernichtenden Aufstand, den - außer Jimmy und den Crakern - niemand überlebt. "Alles, was es braucht", bekennt Crake gegenüber Jimmy, "ist die Beseitigung einer einzigen Generation. Wenn man das zeitliche Bindeglied zwischen einer Generation und der nächsten unterbricht, heißt es für immer: Spiel aus."

Unorte der Hoffnung/die nicht mehr Erfüllung sucht/unordentlich ersetzt/durch Träume von Freiheit und Ordnung, beschreibt Erich Fried in einem Gedicht die Science-fiction-Kultur. Der Exodus der Craker in das wüste Land ist weder für Jimmy und am wenigsten für die Craker hoffnungsbesetzt. Was aber Crake seinen Geschöpfen nicht austreiben konnte, ist das Träumen und Singen. "Hüte dich vor der Kunst", erinnert sich Jimmy an dessen Warnung, als die Craker beginnen, ein Götzenbild zu bauen, um ihren Propheten, Schneemensch, zurückzuholen, "sobald sie anfangen, Kunst zu machen, haben wir ein Problem."

Die Geschichte an ihrem Ende. Stunde Null, damit endet Margaret Atwoods apokalyptisch gefärbte Prophezeiung. Vielleicht wird es Jimmy gehen wie jener mittlerweile 150 Jahre alten Riesenschildkröte George auf Galapagos: Nachdem seine Artgenossen vollständig ausgerottet wurden, ist ihm ein einsames Schicksal bestimmt, und mit ihm erlöscht die Gattung unwiderruflich. Vielleicht wird Jimmys Flaschenpost, seine mühselig erhaltenen und repetitierten "Einträge", aber auch irgendwo empfangen. Am Anfang war das Wort. Die kanadische Autorin hat es auf die Probe gestellt, und es hat - gemessen an der technischen Zivilisation, die die Gattung in den Abgrund trieb - bestanden. Aus dem Wort wurde Kunst - und mehr ist von einem "Zukunftsroman" doch kaum zu erwarten.

Margaret Atwood: Oryx und Crake. Deutsch von Barbara Lüdemann. Berlin, Berlin 2003, 380 S., 24 EUR; Taschenbuch 9,90 EUR


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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