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Linksbündig Der Genomforscher Craig Venter belästigt mit seinem Erbgut

Der Aufstieg des Bürgertums begann mit einer grandiosen Selbstweihe: Die Patrizier in den reichen Stadtstaaten des Nordens oder in den holländischen Handelsmetropolen ließen es sich viel Geld kosten, ihr Konterfei in Öl zu bannen und der Nachwelt zu überliefern. Der Zwang zur Selbstausstellung beschäftigte Heerscharen von Künstlern, und manch niederländischer Meister wurde bei dieser Art von Auftragsarbeit reich. So schuf der Selbstausdruck einer Klasse ein neues Sujet, die Porträtmalerei, der, über die soziale Demonstration hinaus und mit zunehmendem Selbstbewusstsein der Bürger, aufgegeben war, das Individuelle, Besondere des Modells zu verewigen. Zeig´ mir dein Gesicht, und ich sag´ dir, wer du bist.

Ihre letzte Blüte feierte die bürgerliche Physiognomie nach dem Ersten Weltkrieg, als das Gesicht zur Orientierungsmarke der gesamten Epoche erhoben wurde, die sich darin zu erkennen suchte. Doch je mehr deren "wahres" Antlitz hinter den politischen Maskeraden verschwand, desto größer der Zweifel am Porträt. Kein Zufall, dass genau in diese Ära die kriminalistische und rassistische Vermessung des Menschen und der Aufstieg der genetischen Wissenschaft fällt.

Letztere hat sich im 21. Jahrhundert auch ihre eigene Kunstform geschaffen. Erinnert sei an die "Grammatik der Biologie", mit der Craig Venter, der pfiffigste aller Gen-Unternehmer, im Wettlauf mit dem internationalen Humangenomprojekt am 26. Juni 2000 die Menschheit aufschreckte. Damals hielt er ihr den Spiegel vor in Form von 3,2 Milliarden Basenpaaren, kombiniert aus vier Buchstaben, aus denen der Stoff des Lebens zusammengesetzt ist. Das Versprechen: Eine lesbare Welt, aufzuschlagen auf sechs Zeitungsseiten. Und gleichzeitig ein Gesamtkunstwerk, das zumindest den Kostenvergleich mit der bürgerlichen Malerei nicht zu scheuen braucht.

Vergangene Woche nun hat sich Venter, um den es stiller geworden war, als Plakat-Künstler geoutet und im Online-Magazin PLoS Biology ein Poster seines eigenen Erbguts veröffentlicht. Das Kunstwerk, das Venters 46 bunt eingefärbte Chromosomen zeigt und das erste vollständig sequenzierte diploide menschliche Genom darstellt, ist angemessen abstrakt und doch so Pop-Art-verdächtig, dass es im Salon ebenso gut hängt wie an der Klotür. Wer mag, kann es sich herunterladen oder reproduzieren lassen - und hat doch den ganz einzigartigen Menschen Venter aus dem amerikanischen Rockville vor sich. Mit dieser Verewigung, so der genombesessene Forscher, sei endlich bewiesen, "dass wir Menschen genetisch gesehen wirklich Individualisten sind", und er sieht eine neue Ära der Erforschung der Individualität eingeläutet.

Das kann aber auch ganz schön lästig sein, denn die in Gen-Deuterei bewanderten Kollegen sind boshaft genug, Venters Erbgut nun öffentlich zu interpretieren. Die Zeitschrift Nature beispielsweise kolportiert eine Unregelmäßigkeit am so genannten MAOA-Gen, das angeblich auf ein erhöhtes Risiko für antisoziales Verhaltens hinweist. Weniger kompromittierend ist die Anlage für flüssigen Ohrenschmalz. Venter selbst räumt ein, er habe eine Disposition für schwere Herzprobleme festgestellt, die ihn nun veranlasse, cholesterinsenkende Medikamente einzunehmen. Zeig mir dein Erbgut, und ich sag dir, wer du bist.

Noch ist das genetische Kunstwerk, das derzeit noch mehrere Millionen Dollar verschlingt, nicht für jedermann erschwinglich, doch Venter hofft, eine individuelle Entschlüsselung bald für 100.000 Dollar anbieten zu können. Sein Institut hat einen Preis ausgelobt für ein Verfahren, das die Kosten auf unter 1.000 Dollar drückt und für breitere Bevölkerungskreise bezahlbar macht, was die Ärzteschaft hierzulande schon jetzt alarmiert.

Interesse könnten aber auch wahnhafte Sicherheitspolitiker anmelden, für die ein genetisch vorab entschlüsselter Verbrecher oder Terrorist billiger dingfest zu machen wäre als durch aufwändige Rasterfahndung und Online-Überwachung. Stern-Leser haben Innenminister Schäuble im Internet schon den entsprechenden Wink gegeben.

Gefragt, ob ihn Eitelkeit zur Veröffentlichung des eigenen Erbguts veranlasst habe, gibt sich Venter übrigens ganz souverän. Natürlich habe ihn die Neugier getrieben, doch vor allem der Wunsch zu zeigen, dass er keine Angst vor seinem genetischen Code habe und jeder darin lesen dürfe.

Wie diskret und rücksichtsvoll war da doch noch das aufsteigende Bürgertum, das gerüstet durch Kleiderordnungen und Ausdrucksregeln sein Innerstes zu verbergen wusste.


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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