Ins Abseits reformiert

Rente Die Sozialdemokraten erreichen nicht mal mehr mit ihren Kernthemen die Wähler
Ausgabe 16/2016

Hartmut G. ist richtig sauer auf die SPD. Seit zwei Jahren wartet er vergeblich auf die Flexi-Rente. Denn der bald 67-Jährige gehört zu den begehrten Fachkräften, die über die Regelaltersgrenze hinaus weiterarbeiten, aber benachteiligt werden, weil die Arbeitgeber zwar Beiträge in die Renten- und Arbeitslosenkasse einzahlen müssen, die Begünstigten damit aber weder ihre Altersbezüge aufbessern können, noch jemals in den Genuss von Arbeitslosengeld kommen, weil sie nach ihrem Ausscheiden ja Rentner werden.

Auch die 1956 geborene Anja D. ist nicht gut auf die SPD zu sprechen. Zwar haben die Sozialdemokraten mit der Rente mit 63 den Schock abgemildert, den sie 2007, in der ersten Großen Koalition, mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre noch ausgelöst hatten. Doch für Anja D. ist das Makulatur: Weil sie erst spät einen festen Job hatte und immer wieder lange Zeit arbeitslos war, wird sie niemals auf die vorgeschriebenen 45 Beitragsjahre kommen. Der Akademikerin droht Altersarmut. Weder Hartmut G. noch Anja D. würden bei der Bundestagswahl SPD wählen.

Die beiden Beispiele markieren das Dilemma, in dem die in Umfragen auf unter 20 Prozent abgesackte SPD derzeit steckt. Im Bemühen, wieder den Schulterschluss mit ihrer Stammklientel zu erreichen und „ein verlässlicher Partner der organisierten Arbeitnehmerschaft“ zu sein, wie SPD-Politiker Niels Annen versichert, erreichen sie die inzwischen weitläufig zersplitterten sozialen Schichten nicht mehr, von denen sie sich früher noch Unterstützung erhoffen konnte: das aufgeklärt-gebildete Bürgertum, das zu den Grünen abgewandert ist; die zerschredderte Linke, die sich vom parteigebundenen Engagement gelöst hat; und die sozial Abgeschlagenen, die sich auf dem Feld der Nichtwähler sammeln oder inzwischen zur AfD gewechselt sind. Die traditionelle SPD-Stammgarde, die Arbeiterschaft, ist gleichzeitig quantitativ so abgeschmolzen, dass sich daraus keine Volkspartei mehr rekrutieren lässt.

Das ist fast schon ein bisschen tragisch, denn die Sozialdemokraten haben, einmal zum Juniorpartner bestimmt, die Große Koalition ja durchaus rosarot angepinselt. Sie setzten, wie gesagt, die Rente mit 63 durch, den, wenn auch kargen, Mindestlohn, die Mietpreisbremse und veranlassten außerdem noch ein paar Schönheitsreparaturen zugunsten der Gleichberechtigung. Doch niemand dankt es ihnen. Die Genossen stehen da wie das Männlein im Walde und verstehen die Welt nicht mehr.

Wo ist die politische Vision?

Als die SPD in den frühen 70er Jahren die Schulen und Universitäten durchlässiger machte, den sozialen Wohnungsbau ankurbelte, Arbeitnehmerrechte stärkte und die Beschäftigten ein bisschen am Gewinnkuchen teilhaben ließ, als sie die Mauern zwischen Ost und West perforierte und vom „Wandel durch Annährung“ sprach, wurde sie gefeiert als fortschrittsfreudige Gerechtigkeitsmaschine und gelobt als Modernisierungsmotor. Damals hat sie das Zeichen verstanden und die Zeit des globalen und gesellschaftlichen Umbruchs für sich zu nutzen gewusst, auch wenn man natürlich der Ansicht sein kann, dass das letztlich alles der kapitalistischen Stabilisierung diente.

Heute, wo der Nationalstaat von den Agenturen der Globalisierung durchlöchert wird, sich die einst polar ausgerichtete Mittelstandsgesellschaft der späten Nachkriegszeit zerstreut hat in kaum mehr einzufangende Milieus, globale Communities und soziale Bewegungen, ist der „Sozialpakt“, für den die SPD einmal stand, für die Wähler keine Perspektive mehr und schon gar keine politische Vision. Dass es Parteien überhaupt schwer haben, diese unübersichtlichen sozialen Parzellen zu bestellen, hat das Debakel der Piratenpartei vorgeführt. Der entsprechende Aufstieg der „Alternative für Deutschland“ am rechten Rand punktet ja nicht durch Überzeugung, sondern fungiert eher als Lumpensammler der Revanche. Es noch einmal den Etablierten zeigen zu können, ist das Einzige, was dem stummen Rest geblieben ist. Und er kennt dabei kein Pardon.

Doch was bedeutet all das für eine SPD, die sich in einem siebenjährigem Dienstverhältnis unter einer sozialdemokratischen CDU-Kanzlerin verschlissen hat? Sie hat Angst. Die Panik grassiert nach drei Landtagswahlen, von denen zwei im Desaster endeten und bei einer ausnahmsweise auch das Glück in Gestalt der Person mitgespielt hat. Mit dem Spitzenpersonal tut sich die SPD nämlich seit mindestens drei Jahrzehnten schwer, entweder weil Überfliegern (Lafontaine) der Tross abhanden kam oder weil beispiellose Mittelmäßigkeit die Bühne bestimmte. Wenn einer dann doch einmal siegte, wie der äußerst machtbewusste Gerhard Schröder, hinterließ er dem Räumungskommando der Partei eine politische Bruchbude.

Mit Sigmar Gabriel bestimmt nun schon seit sieben Jahren ein Politiker die Geschicke der SPD in einer Weise, die zwar den schnelllebigen medialen Bedürfnissen, nicht aber denen der Partei gerecht wird. „Mr. Zickzack“ nennt man ihn unter seinesgleichen, einer, der es wie ein Entertainer mit der Wirtschaft hält, es sich aber auch mit den Massen nicht verderben will. Ja zum Freihandelsabkommen TTIP und Ja zu den Flüchtlingen, aber bitte nun auch wieder nicht so, dass einer der „Unseren“ zu kurz dabei kommt. Manche in der SPD sprechen von mangelnder kommunikativer Anschlussfähigkeit; in Wahrheit fehlt ein politisches Konzept.

Gäbe es eine personelle Alternative, würde er den Platz gerne räumen, sagt Gabriel. Mit dem Auswechseln ihrer Vorsitzenden waren die Genossen meistens schnell bei der Hand und auch nie besonders zimperlich. Aber wer sollte ihn ersetzen? Der dröge und so verlässliche Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz, der derzeit in der Zeit zu Gabriels Nachfolger hochgeschrieben wird? Oder der Mann fürs verbale Grobe, der Parteivize Ralf Stegner, der den „Zusammenhalt der Gesellschaft“ organisieren und „die Sozialpolitik wieder zum Markenkern der SPD“ machen will? Oder Andrea Nahles, die nun, versprochen!, den Rest dieser ungerechten Rentenreform abräumen will?

Es gehört zu den eigenartigen, offenbar nicht auszurottenden Missverständnissen im politischen und medialen Geschäft, dass Politiker wie Stegner glauben, dass man die Leute nur wieder „an der Haustüre“ oder eben auch im Netz „abholen“ muss. Seid getrost, die Leute sind längst da, und wenn sie euch nicht mehr zuhören, habt ihr eure einstige Überzeugungskraft verspielt. Oder die Optionen, die ihr mal hattet, als man ein rot-rot-grünes Bündnis auf das Bett politischer Bewährung hätte legen können, anhaltende Schlaflosigkeit eingeschlossen.

Rückbesinnung aufs Soziale

Die Rückbesinnung auf Sozialpolitik ist natürlich nicht falsch. Aber die SPD wusste nicht erst seit der – etwas reißerisch vermarkteten – WDR-Studie, dass im nächsten Jahrzehnt viele, wenn auch vielleicht nicht die Hälfte aller Rentner und Rentnerinen dem Schicksal der Altersarmut entgegengehen. Dafür hat die Partei der Arbeiter gesorgt, indem sie diejenigen, die nicht zu den Stammbelegschaften gehörten, ins Prekariat schickte, die Springer und Erwerbslosen, die unregelmäßig beschäftigten Frauen und Alleinerziehenden. Auch kein homogenes Milieu, mit dem man das Parteisüppchen hätte köcheln können.

Jetzt also soll die Rente, die von der CDU mal als sicher versprochen worden war, die SPD retten. Es ist gut, dass darüber geredet wird, dass die Absenkung des Rentenniveaus, aber eben auch lange Ausbildungszeiten, schlechte Konjunktur, mäandernde persönliche Lebenslagen oder die Entscheidung, eine sinnvoll erscheinende, wenn auch schlecht bezahlte Tätigkeit zu verrichten, dazu führen können, im Alter zu verarmen.

Doch selbst auf diesem Feld sind die Interessen, wie die einführenden Beispiele zeigen, so vielfältig wie die Menschen. Kluge Politik fängt nicht mit der Propaganda an der Haustüre an, sondern damit, unterschiedliche Lebensverhältnisse und Interessenlagen in ein flexibles Konzept zu fassen, das dem Potpourri des Lebens und nicht den Flexibilitätsanforderungen von Unternehmen oder gewerkschaftlichen Sicherheitsbedürfnissen Rechnung trägt. Vielleicht würde die SPD dann wieder zu einer Art sozialpolitischer Erneuerungsinstanz, auch wenn sie den Kapitalismus wohl niemals mehr überwinden wollen wird.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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